Der birsfaelder.li-Schreiberling hat in der letzten Folge eine Aussage Erich Fromms zur Entwicklung des Christentums in Europa als “ziemlich starken Tobak” bezeichnet. Was er anschliessend schreibt, dürfte bei vielen zu noch mehr Kopfschütteln führen: Er wagt es tatsächlich, den Sinn der Olympischen Spiele — Zelebrierung der Völkerfreundschaft — in Zweifel zu ziehen, — ja mehr noch, sie negativ zu beurteilen:
… man denke an den rasenden Nationalismus, mit dem viele Menschen die Olympischen Spiele verfolgen, welche angeblich der Sache des Friedens dienen. Die Popularität der Olympiade ist an sich schon ein Ausdruck des westlichen Heidentums. Sie ist eine Feier zu Ehren des heidnischen Helden: des Siegers, des Stärksten, des Durchsetzungsfähigsten, wobei das Publikum bereit ist, die schmutzige Mischung aus Geschäft und Publizität zu übersehen, die die heutige Version der griechischen olympischen Spiele kennzeichnet. In einer christlichen Kultur würde das Passionsspiel an die Stelle der Olympiade treten; doch das einzige berühmte Spiel dieser Art auf der Welt ist die Touristenattraktion in Oberammergau.
Und dann setzt er gleich noch einen drauf:
Wenn all dies zutrifft, warum sagen sich Europa und Amerika dann nicht ganz offen vom Christentum als nicht mehr zeitgemäß los?
Es gibt verschiedene Gründe: So bedarf es der religiösen Ideologie, um Menschen daran zu hindern, ihre Disziplin zu verlieren und so die gesellschaftliche Ordnung zu bedrohen.
Christentum als religiöse Ideologie!? — Nun, natürlich hat er recht, aber die Frage ist, welches Christentum er meint. Sicher nicht dasjenige der christlichen mystischen Tradition, wie es ein Meister Eckhart, eine Hildegard von Bingen, eine Margarete Porete, ein Johannes Tauler oder ein Jakob Böhme lebten, sondern das Christentum, das mit der weltlichen Macht kungelte oder sich im behäbigem Bürgertum einrichtete. Ein perfektes aktuelles Beispiel für eine solch christlich-religiöse Ideologie können wir gerade in den USA beobachten (siehe Trump Dämmerung).
Doch damit nicht genug. Mit den folgenden Ausführungen rüttelt er gewaltig an tiefsitzenden Überzeugungen vieler Kirchenchristen:
… Aber es gibt noch einen gewichtigeren Grund: Menschen, die an Jesus als den großen Liebenden, den sich selbst aufopfernden Sohn Gottes glauben, können diesen Glauben zu der Einbildung verfremden, dass Jesus für sie liebt. Jesus wird somit zum Idol, der Glaube an ihn wird zum Ersatz für den eigenen Akt des Liebens. Vereinfacht lautet die unbewusste Formel: „Christus liebt an unserer Stelle; wir können nach dem Muster des griechischen Helden weitermachen und sind trotzdem gerettet, denn der entfremdete ‘Glaube’ an Christus ist ein Ersatz für die Imitatio Christi. Dass die christliche Religion auch ein billiger Deckmantel für die eigene Habsucht war und ist, versteht sich von selbst.
Schließlich glaube ich auch, dass der Mensch mit einem so tiefen Bedürfnis zu lieben ausgestattet ist, dass wir uns notwendigerweise schuldig fühlen, wenn wir uns wie Wölfe verhalten. Unser angeblicher Glaube an die Liebe macht uns bis zu einem gewissen Grad unempfindlich für den Schmerz der unbewussten Schuldgefühle, ganz ohne Liebe zu sein.
Fromm war und ist definitiv ein unbequemer Zeitgenosse …
Fortsetzung am kommenden Donnerstag, den 31. Oktober.
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