Hät­te sich die euro­päi­sche Geschich­te im Geis­te des 13. Jahr­hun­derts wei­ter­ent­wi­ckelt, hät­te sich das wis­sen­schaft­li­che Den­ken lang­sam und ohne Bruch mit dem Geist des 13. Jahr­hun­derts ent­fal­tet, so wären wir heu­te viel­leicht in einer güns­ti­ge­ren Posi­ti­on. Doch statt­des­sen began­nen die Ver­nunft zu mani­pu­la­ti­ver Intel­li­genz und der Indi­vi­dua­lis­mus zur Selbst­sucht abzu­sin­ken. Die kur­ze Peri­ode der Chris­tia­ni­sie­rung ende­te, und Euro­pa kehr­te zu sei­nem ursprüng­li­chen Hei­den­tum zurück.

So Erich Fromm in sei­nem Buch “Haben oder Sein” zur Ent­wick­lung des Chris­ten­tums in Euro­pa. Sei­ne Ankla­ge ist “ziem­lich star­ker Tobak”: Hat die euro­päi­sche Geis­tes­ge­schich­te nicht doch auch spä­ter vie­le Glanz­lich­ter auf­zu­wei­sen? — Aber viel­leicht liegt der Hase genau da im Pfef­fer: Es gibt die­se Glanz­lich­ter ohne Zwei­fel — man den­ke etwa an die phi­lo­so­phi­schen Höhen­flü­ge des Idea­lis­mus -, aber haben sie in der Gesell­schaft,  in der Wirt­schaft, in der Poli­tik, im kul­tu­rel­len Leben wirk­lich Wur­zel geschla­gen? Offen­sicht­lich nicht. Sonst wäre der Kolo­nia­lis­mus, wären die Gräu­el des 20. Jahr­hun­derts auf den Schlacht­fel­dern nicht mög­lich gewesen.

Fromm steht mit die­ser pes­si­mis­ti­schen Ana­ly­se bei­lei­be nicht allein. Auch ein Leon­hard Ragaz geis­sel­te in sei­nen Pre­dig­ten und Schrif­ten immer wie­der den pseu­do-christ­li­chen Fir­nis des Bür­ger­tums und stell­te ihm sei­ne radi­ka­le Reich Got­tes-Theo­lo­gie gegenüber.

Anschlies­send stellt Erich Fromm dem Ide­al­bild des “christ­li­chen Hel­den” den “heid­ni­schen Hel­den” gegenüber:
Der christ­li­che Held war der Mär­ty­rer, denn wie in der jüdi­schen Tra­di­ti­on bestand das höchs­te Ziel dar­in, sein Leben für Gott oder sei­ne Mit­men­schen zu opfern. Der Mär­ty­rer ist das genaue Gegen­teil des heid­ni­schen Hel­den, wie ihn die grie­chi­schen und ger­ma­ni­schen Hel­den­fi­gu­ren dar­stel­len. Das Ziel des heid­ni­schen Hel­den war es, zu erobern, zu besie­gen, zu zer­stö­ren und zu rau­ben. Die Erfül­lung sei­nes Lebens waren Ehre, Macht, Ruhm und die Gewiss­heit, der Bes­te im Töten zu sein. (…)

Wird der Mär­ty­rer durch die Kate­go­rien Sein, Geben, Tei­len cha­rak­te­ri­siert, dann der heid­ni­sche Held durch die Kate­go­rien Haben, Aus­beu­ten, gewalt­sam Erzwin­gen. (Dazu ist anzu­mer­ken, dass das Auf­tre­ten des heid­ni­schen Hel­den mit dem Sieg des Patri­ar­chats über die matri­zen­tri­sche Gesell­schaft in Zusam­men­hang steht. Die Herr­schaft des Man­nes über die Frau ist der ers­te Akt der Unter­jo­chung und die ers­te aus­beu­te­ri­sche Anwen­dung von Gewalt; in allen patri­ar­cha­li­schen Gesell­schaf­ten sind die­se Prin­zi­pi­en nach dem Sieg der Män­ner zum Fun­da­ment des männ­li­chen Cha­rak­ters geworden.)

Wel­ches die­ser bei­den gegen­sätz­li­chen, mit­ein­an­der nicht zu ver­ein­ba­ren­den Model­le für unse­re eige­ne Ent­wick­lung ist bis zum heu­ti­gen Tag in Euro­pa bestim­mend? Wenn wir in unser Inne­res schau­en und uns das Ver­hal­ten fast aller Mit­men­schen und unse­rer poli­ti­schen Füh­rer betrach­ten, ist nicht zu leug­nen, dass unser Vor­bild, unser Maß­stab für das Gute und Wert­vol­le immer noch der heid­ni­sche Held ist. Die Geschich­te Euro­pas und Nord­ame­ri­kas ist trotz der Bekeh­rung zum Chris­ten­tum eine Geschich­te der Erobe­run­gen, der Eitel­keit und der Hab­gier; unse­re höchs­ten Wer­te sind: stär­ker als ande­re zu sein, zu sie­gen, ande­re zu unter­jo­chen und aus­zu­beu­ten. Die­se Wert­vor­stel­lun­gen decken sich mit unse­rem Ide­al von „Männ­lich­keit“: nur wer kämp­fen und erobern kann, gilt als Mann, wer kei­ne Gewalt anwen­det, ist schwach und damit „unmänn­lich“.

Der Nach­weis erüb­rigt sich, dass die west­li­che Geschich­te eine Geschich­te der Erobe­rung, Aus­beu­tung, Gewalt und Unter­drü­ckung ist. Kaum eine Epo­che, die nicht davon gekenn­zeich­net ist, kei­ne Ras­se oder Klas­se, die frei davon wäre; oft ging die Gewalt­an­wen­dung bis zum Völ­ker­mord wie bei den India­nern Ame­ri­kas, und selbst sol­che reli­giö­sen Unter­neh­mun­gen wie die Kreuz­zü­ge bil­den kei­ne Aus­nah­me. War die­ses Ver­hal­ten nur an der Ober­flä­che öko­no­misch und poli­tisch moti­viert, und waren die Skla­ven­händ­ler, die Herr­scher Indi­ens, die Ver­nich­ter der India­ner, die Eng­län­der, die die Chi­ne­sen zwan­gen, Opi­um in ihr Land zu las­sen, die Ver­ant­wort­li­chen für zwei Welt­krie­ge und die­je­ni­gen, die für den nächs­ten Krieg rüs­ten – waren und sind alle die­se in ihrem Inners­ten Chris­ten? Oder waren viel­leicht nur die Anfüh­rer raub­gie­ri­ge Hei­den, wäh­rend die brei­ten Mas­sen der Bevöl­ke­rung Chris­ten blie­ben? Wenn dem so wäre, dann wäre uns wohl leich­ter ums Herz.

Lei­der ist es nicht so. Zwar stimmt es, dass die Anfüh­rer oft beu­te­gie­ri­ger waren als ihre Gefolg­schaft, weil sie mehr zu gewin­nen hat­ten, aber sie hät­ten ihre Plä­ne nicht ver­wirk­li­chen kön­nen, wenn der Wunsch, zu erobern und über ande­re zu sie­gen, nicht im Gesell­schafts-Cha­rak­ter ver­wur­zelt gewe­sen wäre und es noch immer ist.

Fort­set­zung am kom­men­den Frei­tag, den 25. Oktober

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