Auch mit den letzten beiden Punkten in seinem Buch “Haben oder Sein” steht Erich Fromm heute auf verlorenem Posten:
● Die wissenschaftliche Grundlagenforschung ist von der Frage der industriellen und militärischen Anwendung zu trennen.
● Eine unabdingbare Voraussetzung einer neuen Gesellschaft ist die atomare Abrüstung.
So träumt Fromm weiterhin von einer Kontrollkommission, welche
die Genehmigung zur praktischen Auswertung wissenschaftlicher Entdeckungen erteilt. Es versteht sich von selbst, dass diese Kommission juristisch und psychologisch völlig unabhängig von der Industrie, der Regierung und dem Militär sein muss.
Über ihr stünde eine Art “Rat der Weisen”, der diese Kommission ernennen und ihre Tätigkeit überwachen würde.
Gleichzeitig war ihm schon damals in den siebziger Jahren klar, dass der Realisierung der beiden Forderungen nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstünden. Aber es gelte wie bei einem Arzt, der einen Patienten auch bei der geringsten Überlebenschance zu retten versuche, die Hände nicht in den Schoss zu legen, sondern unermüdlich weiterzukämpfen. Schon beinahe prophetisch im Hinblick auf heute schreibt er:
Die gegenwärtig populäre technokratische Ansicht, dass doch nichts dagegen einzuwenden sei, uns mit Arbeit oder Vergnügen die Zeit zu vertreiben, auch wenn die Gefühle auf der Strecke bleiben, und dass der technokratische Faschismus am Ende gar nicht so übel sei, verrät wenig Weisheit. Aber das ist Wunschdenken. Der technokratische Faschismus muss zwangsläufig zu einer Katastrophe führen. Der enthumanisierte Mensch wird so verrückt werden, dass er langfristig nicht imstande sein wird, eine lebensfähige Gesellschaft aufrechtzuerhalten, und kurzfristig sich nicht des selbstmörderischen Gebrauchs nuklearer oder biologischer Waffen enthalten können wird.
Als kleine Hoffnungsanker sieht er:
● dass immer mehr Menschen realisieren, dass schon aus rein ökonomischen Gründen eine neue Ethik, eine neue Einstellung zur Natur, dass menschliche Solidarität und Kooperation notwendig sind, wenn die westliche Welt nicht ausgelöscht werden soll.
● dass immer mehr Menschen mit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung unzufrieden sind. Sie fühlen die Öde ihrer Isolation und die Leere ihres Zusammenseins; sie empfinden ihre Ohnmacht, die Sinnlosigkeit ihres Lebens. Viele spüren das sehr klar und bewusst; andere weniger deutlich, aber sie werden dessen gewahr, wenn ein anderer es in Worte fasst. (…) Der größere Teil der westlichen Welt kennt die Segnungen des Konsumentenglücks, und immer mehr von denen, die in den Genuss dieses Glücks kommen, finden es unbefriedigend. Sie beginnen zu entdecken, dass viel zu haben kein Wohl-Sein schafft: Die traditionelle Ethik ist auf die Probe gestellt und durch die Erfahrung bestätigt.
Wie der Individualpsychologe Alfred Adler ist Fromm überzeugt, dass der “Haben-Impuls”, Habgier und Neid nicht in der menschlichen Natur verwurzelt sind: Habsucht und Neid sind nicht von Natur aus so stark, sondern infolge des allgemeinen Drucks, ein Wolf unter Wölfen zu sein. Sobald sich das gesellschaftliche Klima, die allgemeinverbindlichen Wertmaßstäbe geändert haben, wird auch der Übergang von der Selbstsucht zum Altruismus um vieles leichter sein. (…)
Nur eine kleine Minderheit wird von der Existenzweise des Habens gesteuert, während eine weitere kleine Minderheit in der Existenzweise des Seins lebt. Bei der Mehrheit kann die eine oder die andere Orientierung die Oberhand gewinnen – je nachdem, welche in der Gesellschaftsstruktur den günstigeren Nährboden findet. In einer am Sein orientierten Gesellschaft werden die Tendenzen zum Haben „ausgehungert“ und die Tendenzen zum Sein „genährt“.
Trotz der genannten hoffnungsvollen Faktoren bleiben die Chancen gering, dass es zu den notwendigen menschlichen und gesellschaftlichen Veränderungen kommt. Unsere einzige Hoffnung ist …
Ja, was denn? Die birsfaelder.li-Leserinnen und ‑Leser können sich dazu ein paar eigene Gedanken machen, bevor in der nächsten Folge am kommenden Freitag, den 11. April der Schleier von Fromms Geheimnis gelüftet wird 😉
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