Erich Fromm: Frie­de als der Zustand anhal­ten­der har­mo­ni­scher Bezie­hun­gen zwi­schen Völ­kern ist nur mög­lich, wenn die Haben­struk­tur durch die Struk­tur des Seins ersetzt wird. Die Vor­stel­lung, man kön­ne Frie­den haben, wäh­rend man das Stre­ben nach Besitz und Gewinn unter­stützt, ist eine Illu­si­on, und zwar eine gefähr­li­che, denn sie hin­dert die Men­schen zu erken­nen, dass sie sich einer kla­ren Alter­na­ti­ve stel­len müs­sen: ent­we­der eine radi­ka­le Ver­än­de­rung des Cha­rak­ters oder ewi­ger Krieg. Tat­säch­lich ist die­se Alter­na­ti­ve alt; die Füh­rer haben den Krieg gewählt, und die Men­schen sind ihnen gefolgt. 

Inter­es­san­te Fra­ge: Putin ist mit sei­nem Angriff auf die Ukrai­ne ohne Zwei­fel dem “Haben”-Modus gefolgt: Wie­der­her­stel­lung impe­ria­ler Macht. Folgt die Ukrai­ne mit ihrem Ver­tei­di­gungs­kampf eben­falls dem “Haben”-Modus?

Als ein wei­te­res ein­drück­li­ches Bei­spiel für die nega­ti­ven Fol­gen eines Lebens in die­sem “Haben”-Modus bringt Erich Fromm den Klas­sen­kampf in der Geschichte:
Was für den Krieg zwi­schen den Völ­kern gilt, ist eben­so gül­tig für den Klas­sen­kampf. Es gab den Kampf zwi­schen den Klas­sen, zwi­schen den Aus­beu­tern und den Aus­ge­beu­te­ten, in Gesell­schaf­ten, die auf dem Prin­zip der Hab­gier begrün­det waren, immer schon. (…) Unter­drück­te Klas­sen wer­den ihre Beherr­scher stür­zen, um selbst Herr­scher zu wer­den und so end­los wei­ter. Der Klas­sen­kampf kann mil­de­re For­men anneh­men, aber er kann nicht auf­hö­ren, solan­ge Hab­gier das Herz des Men­schen beherrscht. Die Vor­stel­lung einer klas­sen­lo­sen Gesell­schaft in einer so genann­ten sozia­lis­ti­schen Welt, die vom Geist der Hab­gier voll ist, ist eben­so illu­sio­när – und gefähr­lich – wie die Idee eines immer­wäh­ren­den Frie­dens zwi­schen hab­gie­ri­gen Völkern.

Gleich­zei­tig wird Fromm aber — und das durch­aus zu Recht — als Mar­xist gehan­delt. Wie passt die­se Tat­sa­che mit sei­ner obi­gen kri­ti­schen Ana­ly­se zusam­men? Eine Auf­lö­sung des schein­ba­ren Gegen­sat­zes fin­det sich im Vor­wort zu sei­nem Buch “Das Men­schen­bild bei Marx”:

Die Phi­lo­so­phie von Marx ist wie exis­ten­zia­lis­ti­sches Den­ken ein Pro­test gegen die Ent­frem­dung des Men­schen, gegen den Ver­lust sei­ner selbst und sei­ne Ver­wand­lung in ein Ding. Die­sen Pro­test erhebt sie gegen die Dehu­ma­ni­sie­rung und Auto­ma­ti­sie­rung des Men­schen, die mit der Ent­wick­lung des west­li­chen Indus­tria­lis­mus ver­bun­den ist. Marx’ Phi­lo­so­phie übt radi­ka­le Kri­tik an allen jenen «Ant­wor­ten», die das Pro­blem der mensch­li­chen Exis­tenz zu lösen suchen, indem sie die in ihr beschlos­se­nen Wider­sprü­che leug­nen oder ver­schlei­ern. Sie wur­zelt in der huma­nis­ti­schen phi­lo­so­phi­schen Tra­di­ti­on des Wes­tens, die von Spi­no­za über die fran­zö­si­sche und deut­sche Auf­klä­rung des acht­zehn­ten Jahr­hun­derts bis zu Goe­the und Hegel reicht, und deren inners­tes Wesen die Sor­ge um den Men­schen und um die Ver­wirk­li­chung sei­ner Mög­lich­kei­ten ist.

Die Zen­tral­fra­ge in der Phi­lo­so­phie von Marx, die ihren deut­lichs­ten Aus­druck in den Öko­no­misch-phi­lo­so­phi­schen Manu­skrip­ten gefun­den hat, ist die nach der Exis­tenz des wirk­li­chen indi­vi­du­el­len Men­schen, der ist, was er tut, und des­sen «Natur» sich in der Geschich­te ent­fal­tet und offen­bart. Im Gegen­satz zu Kier­ke­gaard und ande­ren Phi­lo­so­phen jedoch sieht Marx den Men­schen in sei­ner vol­len Wirk­lich­keit als Mit­glied einer gege­be­nen Gesell­schaft und einer gege­be­nen Klas­se, als ein Wesen, das in sei­ner Ent­wick­lung von der Gesell­schaft gestützt wird und zugleich ihr Gefan­ge­ner ist. Die vol­le Ver­wirk­li­chung des Men­schen und sei­ne Befrei­ung von den gesell­schaft­li­chen Kräf­ten, die ihn gefan­gen hal­ten, ist für Marx ver­bun­den mit der Aner­ken­nung die­ser Kräf­te und mit einem gesell­schaft­li­chen Wan­del, der auf eben die­ser Aner­ken­nung basiert.

Marx’ Phi­lo­so­phie ist eine Pro­test­phi­lo­so­phie; ein Pro­test, der getra­gen ist vom Glau­ben an den Men­schen, an sei­ne Fähig­keit, sich selbst zu befrei­en und sei­ne ihm inne­woh­nen­den Mög­lich­kei­ten zu ver­wirk­li­chen. Die­ser Glau­be ist ein Zug des Marx­schen Den­kens, der für die Vor­stel­lungs­welt der west­li­chen Kul­tur vom spä­ten Mit­tel­al­ter bis zum neun­zehn­ten Jahr­hun­dert cha­rak­te­ris­tisch war und der heu­te so sel­ten ist.

In einer Rezen­si­on zum Buch von Fromm heisst es:
Kaum ein Den­ker wur­de so miss­ver­stan­den wie Karl Marx. Und kaum eine Idee wur­de so miss­braucht wie die des Sozia­lis­mus. In die­sem Buch, das in der DDR auf dem Index stand, führt der Psy­cho­ana­ly­ti­ker Erich Fromm aus­führ­lich in das Den­ken des jun­gen, huma­nis­ti­schen Phi­lo­so­phen ein. Fromm zeigt, dass Marx einen Men­schen im Blick hat­te, der sei­ne Erfül­lung in der Befrei­ung von gesell­schaft­li­chen Zwän­gen fin­det. Die Früh­schrif­ten von Marx zeich­nen eine huma­nis­ti­sche Real­uto­pie, die kaum schlim­mer hät­te per­ver­tiert wer­den kön­nen als im real exis­tie­ren­den Sozialismus.

Ange­sichts der Tat­sa­che, dass die MAGA-Bewe­gung in den USA heu­te das Wort “Sozia­lis­mus” als poli­ti­sches Tot­schlag-Instru­ment gebraucht, dürf­te inter­es­sie­ren, was Fromm denn zu Karl Marx, auf den der Begriff des Klas­sen­kamp­fes ja zurück­geht, zu sagen hat.

Dazu mehr in der nächs­ten Fol­ge am kom­men­den Frei­tag, den 13. September.

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