Im Anschluss an die Ein­lei­tung zu sei­nem Buch stellt Robert Kagan die Fra­ge, wie und war­um die Ver­ei­nig­ten Staa­ten heu­te an einen Punkt gelangt sind, an dem das aktu­el­le libe­ra­le poli­ti­sche Sys­tem zu kol­la­bie­ren droht.

Um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, muss man an den Anfang zurück­ge­hen, zum Wesen der Ame­ri­ka­ni­schen Revo­lu­ti­on und zu den Ideen, die sie her­vor­brach­te und die zu den Grün­dungs­prin­zi­pi­en der neu­en Repu­blik wur­den. Mit der Ame­ri­ka­ni­schen Revo­lu­ti­on wur­de eine libe­ra­le Tra­di­ti­on gebo­ren, und der radi­ka­le Libe­ra­lis­mus der Grün­der­zeit prägt und domi­niert auch heu­te noch Poli­tik und Gesell­schaft in Ame­ri­ka. Aber es wur­de auch eine abwei­chen­de Tra­di­ti­on gebo­ren, eine anti­li­be­ra­le Tra­di­ti­on, die den Weg der Nati­on eben­so stark geprägt hat und die heu­te leben­dig ist und gedeiht.

Eine der gro­ßen Schwä­chen des Libe­ra­lis­mus war immer der Glau­be an sei­ne eige­ne Unver­meid­bar­keit. In der libe­ra­len Mytho­lo­gie stell­ten der moder­ne ame­ri­ka­ni­sche Libe­ra­lis­mus und sei­ne Ver­brei­tung in wei­ten Tei­len der Welt im spä­ten zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert den end­gül­ti­gen Tri­umph der Frei­heit dar, nach dem die Mensch­heit seit Anbe­ginn der Zeit streb­te. Es war in die­sem Sin­ne das „Ende der Geschich­te“, die unver­meid­li­che Fol­ge des mensch­li­chen Stre­bens nach Auto­no­mie und Anerkennung. 

Von der Renais­sance über die Refor­ma­ti­on bis zur Auf­klä­rung, von der Magna Car­ta über die Glo­rious Revo­lu­ti­on bis zu den Revo­lu­tio­nen in Ame­ri­ka und Frank­reich, von Gali­leo bis New­ton, vom Feu­da­lis­mus zum Kapi­ta­lis­mus, von der Land­wirt­schaft zur indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on. In die­ser Teleo­lo­gie der Auf­klä­rung war die ame­ri­ka­ni­sche Revo­lu­ti­on eine unver­meid­li­che Etap­pe in der Evo­lu­ti­on der Menschheit.

Hier muss dar­an erin­nert wer­den, dass auch die moder­ne Schweiz ihre Wur­zeln zu einem guten Teil in der Ame­ri­ka­ni­schen Revo­lu­ti­on hat: Als sich im 19. Jahr­hun­dert eid­ge­nös­si­sche Föde­ra­lis­ten und Zen­tra­lis­ten unver­söhn­lich gegen­über stan­den und die nach dem Son­der­bunds­krieg ein­be­ru­fe­ne Ver­fas­sungs­kom­mis­si­on hän­de­rin­gend nach einem neu­en Staats­mo­dell such­te, war es der Vor­schlag von Ignaz P.V. Trox­ler, das bun­des­staat­li­che Prin­zip der ame­ri­ka­ni­schen Ver­fas­sung zu über­neh­men, der die ersehn­te Erlö­sung brachte.
Seit der Grün­dung der USA ist viel Was­ser den Rhein hin­ab­ge­flos­sen, deren Aus­sen­po­li­tik weist seit lan­gem vie­le dunk­le Fle­cken auf, — aber wir blei­ben den Grün­der­vä­tern, wel­che mit ihrem Ver­fas­sungs­ent­wurf poli­ti­sches Neu­land betra­ten, für immer zu gros­sem Dank ver­pflich­tet. Dies umso mehr, weil sich inzwi­schen am gesell­schaft­li­chen Hori­zont dunk­le Wol­ken zusam­men­bal­len, denn

… die Unver­meid­bar­keit des Libe­ra­lis­mus ist ein libe­ra­ler Mythos. Aus his­to­ri­scher Sicht waren Libe­ra­lis­mus, Frei­heit und der Schutz der Rech­te des Ein­zel­nen eine sel­te­ne Abwei­chung. Seit den Anfän­gen der Mensch­heit wur­den die Men­schen in der einen oder ande­ren Form von Tyran­nei­en beherrscht. Das ist die Norm. Die Vor­herr­schaft des Libe­ra­lis­mus in der moder­nen Welt ist die Aus­nah­me. (…). Der Libe­ra­lis­mus in Euro­pa war in der ers­ten Hälf­te des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts auf dem abstei­gen­den Ast, fast besiegt von den mäch­ti­gen anti­li­be­ra­len Kräf­ten des Faschis­mus, bis die Ver­ei­nig­ten Staa­ten zwei­mal ein­grif­fen, um die libe­ra­le Welt­ord­nung zu ret­ten.

Auch der Libe­ra­lis­mus in Ame­ri­ka selbst war nicht zwangs­läu­fig. Die libe­ra­le Revo­lu­ti­on in Ame­ri­ka war nicht das natür­li­che Ergeb­nis der „west­li­chen“ Kul­tur, der euro­päi­schen Auf­klä­rung oder gar der eng­li­schen Ver­fas­sung. Sie war nicht das Pro­dukt einer ang­lo-pro­tes­tan­ti­schen Evo­lu­ti­on. Ihre Ursprün­ge sind nicht im Chris­ten­tum zu suchen, das trotz sei­nes Bekennt­nis­ses zur Gleich­heit aller Men­schen vor Gott sieb­zehn Jahr­hun­der­te lang exis­tie­ren konn­te, ohne eine ein­zi­ge Rege­lung zum Schutz der Rech­te aller Men­schen vor Staat, Kir­che und Gemein­schaft her­vor­zu­brin­gen. Sie ent­stand aus dem Zusam­men­tref­fen ein­zig­ar­ti­ger Ideen über das Wesen des Staa­tes, einem ein­zig­ar­ti­gen Zusam­men­spiel poli­ti­scher und inter­na­tio­na­ler Ereig­nis­se und einem ein­zig­ar­ti­gen Ort, Nord­ame­ri­ka, wo die Lebens­be­din­gun­gen, vor allem die Mil­lio­nen Hekt­ar frucht­ba­ren und „unge­nutz­ten“ Lan­des für die Besied­lung, anders waren als an jedem ande­ren Ort der Erde zu die­ser Zeit. (…)

Hier wäre als Kon­tra­punkt und Ergän­zung zu die­ser posi­ti­ven Beschrei­bung Kagans anzu­mer­ken, dass der fal­sche Mythos des “unge­nutz­ten” Lan­des direkt mit dem dun­kels­ten Kapi­tel der Ent­ste­hung der USA zusam­men­hängt: mit dem Bei­na­he-Geno­zid an der indi­ge­nen Bevöl­ke­rung. Wer sich davon ein rea­lis­ti­sches Bild machen möch­te, dem sei­en die bei­den Bücher des His­to­ri­kers Aram Mat­tio­li, der vor sei­ner Eme­ri­tie­rung bis vor kur­zem an der Uni­ver­si­tät Luzern lehr­te, sehr empfohlen.

Wenn Kagan fort­fährt: Die „west­li­che Zivi­li­sa­ti­on“ mag eini­ge der wich­tigs­ten Zuta­ten gelie­fert haben, aber vor der Ame­ri­ka­ni­schen Revo­lu­ti­on hat­te die west­li­che Zivi­li­sa­ti­on kei­ne libe­ra­len Regime her­vor­ge­bracht, dann hat er damit selbst­ver­ständ­lich recht, unter­schlägt aber gleich­zei­tig die wich­ti­ge Tat­sa­che, dass ent­schei­den­de Impul­se zur Ent­ste­hung der ame­ri­ka­ni­schen Ver­fas­sung dank des Kon­takts eini­ger Grün­der­vä­ter — allen vor­an Ben­ja­min Frank­lin — mit indi­ge­nen Gesell­schaf­ten frucht­bar wur­den. Das iro­ke­si­sche Bünd­nis ver­weist bis heu­te stolz und zu Recht auf die­se Tatsache.

Fort­set­zung am Do, den 12. September

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