Die nächste Forderung in “Haben oder Sein” sieht aus heutiger Sicht erneut reichlich abgehoben aus:
● Ein Oberster Kulturrat ist ins Leben zu rufen, der die Aufgabe hat, die Regierung, die Politiker und die Bürger in allen Angelegenheiten, die Wissen und Kenntnis erfordern, zu beraten.
Dieses Gremium soll aus Vertretern der geistigen und künstlerischen Elite des Landes bestehen, aus Männern und Frauen, deren Integrität über jeden Zweifel erhaben ist.
Sogenannte “Experten” haben heute — manchmal verdient, meist unverdient — eine schlechte Presse in der Bevölkerung, weil sie unbequeme Wahrheiten aussprechen. Oft werden sie sogar angefeindet oder ins Lächerliche gezogen. Es müsste ein eigentlicher “Rat der Weisen” sein, der parteienübergreifend respektiert würde. In der heutigen polarisierten Gesellschaft leider kaum vorstellbar …
Auch die Verwirklichung der nächsten Forderung hat angesichts von Social Media, deren Existenz und zerstörerische Wirkung Erich Fromm sich vor 50 Jahren nicht vorstellen konnte, den Charakter eines frommen Wunsches:
● Ein wirksames System zur Verbreitung von objektiven Informationen ist zu etablieren.
Der Wissenssoziologe Thomas A. Becker schreibt in einem Gastkommentar in der NZZ:
Demokratie im Gegenwind: Wissen ist ein höchst labiles Steuerungsinstrument.
Im Unterschied zu Autokratien erringen liberale Demokratien ihre Legitimität und Resilienz nicht durch Manipulation, Repression und Propaganda, sondern durch öffentliche Diskurse. Was aber, wenn die Debattenkultur zerfällt und «epistemische Bürgerkriege» angezettelt werden? (…)
Max Weber konnte nicht ahnen, wie nachhaltig soziale Konflikte mittels irrationaler Deutungen der Realität angeheizt werden können. Leisten immer mehr heterogene Gruppen Widerstand gegen die im Zuge der Säkularisierung gestiegene Komplexität, schwindet der Sinn für das Ganze gemeinsamer politischer Strukturen. Wenn wir uns aber nicht mehr auf eine gemeinsame Realität einigen können, entstehen «epistemische Bürgerkriege», in denen jeder seine eigene Version der Wahrheit vertritt. Am Ende kann niemand mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden.
Erich Fromm: Zeitungen, Nachrichtenmagazine, Fernsehen und Radio produzieren aus dem Rohstoff der Ereignisse die Ware: Nachrichten. Nur Nachrichten sind verkäuflich, und die Nachrichtenmedien bestimmen, welche Ereignisse zu Nachrichten aufbereitet werden und welche nicht. Die Informationen, die der Bürger erhält, sind bestenfalls zurechtgestutzt und oberflächlich und geben ihm kaum die Möglichkeit, tiefer in die Materie einzudringen und die eigentlichen Ursachen von Ereignissen zu erkennen. Solange der Verkauf von Nachrichten ein Geschäft ist, kann man Zeitungen und Zeitschriften kaum daran hindern, das zu drucken, was sich gut verkauft (wobei natürlich Unterschiede hinsichtlich ihrer Skrupellosigkeit bestehen) und die Inserenten nicht vergrault.
Heute ist der Druck auf unabhängige und objektive Information enorm. Die Liste während der Berufausübung getöteter Journalisten auf Wikipedia ist erschreckend. Gleichzeitig hat das Internet die Schaffung von wirtschaftlich und politisch unabhängigen Medien erlaubt, die sich der Verbreitung von möglichst objektiven und gut recherchierten Fakten verschrieben haben. In der Schweiz gehören unter anderem dazu REPUBLIK, Infosperber, Journal 21, Heidi News, auf regionaler Basler Ebene z.B. online reports oder der Wochenkommentar von Matthias Zehnder.
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