Der His­torik­er Tim­o­thy Sny­der hat mit seinen Büch­ern zu den Katas­tro­phen im Osten Europas unter Hitler und Stal­in und seinen War­nun­gen vor dem Vor­marsch autokratis­ch­er Regimes weltweit Aufmerk­samkeit erregt.

So ist es nur fol­gerichtig, dass er die aktuelle poli­tis­che Entwick­lung in den USA in aller Schärfe anprangert. Hier sein neuester Blog-Artikel vom 17. März:

Das Böse vor dein­er Tür
Die Abschiebeak­tion als Regimewech­sel

Per­so­n­en, die mit der Bun­desregierung in Verbindung ste­hen, haben unter Mis­sach­tung eines Gerichts­beschlusses und ohne Gerichtsver­fahren oder irgen­deine Form eines ord­nungs­gemäßen Ver­fahrens Hun­derte von Men­schen aus dem Hoheits­ge­bi­et der Vere­inigten Staat­en nach El Sal­vador abgeschoben, wo sie auf unbes­timmte Zeit in einem Konzen­tra­tionslager fest­ge­hal­ten wer­den.

1. Dies ver­stößt gegen die in der Ver­fas­sung ver­ankerten Grun­drechte. Jed­er in den Vere­inigten Staat­en hat das Recht auf ein faires Ver­fahren mit einem ord­nungs­gemäßen Prozess. Men­schen, die Dinge sagen wie „feindliche Kämpfer haben kein Recht auf ein ord­nungs­gemäßes Ver­fahren“, liegen falsch. Und es ist wichtig, die Auswirkun­gen dieser Posi­tion zu ver­ste­hen. Jed­er kann zum „feindlichen Kämpfer“ erk­lärt wer­den. Noch grundle­gen­der ist, dass man, sobald man eine Aus­nahme von der all­ge­meinen Regel akzep­tiert, die Exeku­tive ger­adezu dazu ein­lädt, diese Aus­nahme immer wieder zu nutzen oder sich eine neue Aus­nahme auszu­denken. Wenn Sie als Bürg­er die Bedeu­tung eines ord­nungs­gemäßen Ver­fahrens in Zweifel ziehen, denken Sie daran: Sie brauchen ein ord­nungs­gemäßes Ver­fahren, um zu beweisen, dass Sie ein Bürg­er sind.

2. Die Abschiebung erfol­gte unter Mis­sach­tung eines Gerichts­beschlusses, was einem Plan zur Aushe­belung der Rechtsstaatlichkeit entspricht. Das bedeutet, dass die Aktion nicht nur aus­drück­lich ille­gal war, son­dern als Her­aus­forderung an die Rechtsstaatlichkeit als solche gedacht war. Natür­lich haben die Per­so­n­en, die sich dafür entsch­ieden haben, einen Gerichts­beschluss zu ignori­eren, den Zeit­punkt dafür sorgfältig aus­gewählt. Sie wählten eine Sit­u­a­tion, die sie als „wir gegen sie“, „die Amerikan­er gegen die Aus­län­der“, „die nor­malen Men­schen gegen die Krim­inellen“ charak­ter­isieren kon­nten. Sie brin­gen das Gesetz selb­st absichtlich mit Men­schen in Verbindung, den Deportierten, von denen sie erwarten, dass sie unbe­liebt sind. Dies ist eine Tak­tik, und his­torisch gese­hen eine sehr ver­traute. Auf diese Weise hof­fen sie, die öffentliche Mei­n­ung auf ihre Seite zu ziehen, während sie einen Gerichts­beschluss ignori­eren. Aber wenn es ihnen gelingt, ein­mal eine Aus­nahme zu machen, wird dies zur Regel.

3. Sie wis­sen nicht, wer in diesen bei­den Flugzeu­gen nach El Sal­vador saß. Die Per­so­n­en, die die Abschiebung ver­an­lasst haben, behaupten, dass die Abgeschobe­nen „aus­ländis­che Ter­ror­is­ten“ waren, aber wir haben keine Möglichkeit zu wis­sen, ob dies wahr ist. Sie behaupten auch, dass sie „Mon­ster“ waren, was nicht wahr ist. Wir ken­nen die Namen der Men­schen, die abgeschoben wur­den, nicht. Wir kön­nen daher nicht wis­sen, ob es sich um Aus­län­der oder amerikanis­che Staats­bürg­er han­delte. Ob es sich um Ter­ror­is­ten han­delte: Sie wur­den nicht wegen irgendwelch­er Ver­brechen verurteilt, und daher ist es schw­er zu sagen, ob oder wie dies wahr wäre. Es beste­ht kein Zweifel daran, dass ihre Rechte ver­let­zt wur­den. Aber auch Ihre Rechte wur­den ver­let­zt. Wenn Sie die Einzel­heit­en über Oper­a­tio­nen, bei denen Men­schen gewalt­sam aus dem Hoheits­ge­bi­et der Vere­inigten Staat­en ent­fer­nt wer­den, nicht ken­nen, haben Sie keine ansprech­bare Regierung. Und Sie sind daher gefährdet.

4. Ein­wan­derung und Auswan­derung sind Angele­gen­heit­en der Geset­zge­bung, deren Ver­ant­wor­tung laut Ver­fas­sung dem Kongress über­tra­gen wird. Indem die Exeku­tive eine Abschiebung außer­halb der Gren­zen eines bes­timmten Geset­zes und in der Tat außer­halb der Gren­zen des Rechts im All­ge­meinen organ­isiert, fordert sie nicht nur den Kongress her­aus, son­dern stellt auch dessen Zweck in Frage. Die Abschiebungsak­tion ist mit anderen Worten ein direk­ter Schlag nicht nur gegen die Judika­tive, son­dern auch gegen die Leg­isla­tive der Bun­desregierung. Sie ist eine Behaup­tung der total­en Exeku­tivge­walt, die wed­er auf Geset­zen noch auf Tra­di­tio­nen beruht.

5. Die beteiligten Per­so­n­en erk­lären ihre Macht, die Real­ität zu definieren, unab­hängig nicht nur von der Jus­tiz, son­dern von jeglich­er Über­prü­fung. Es gibt keine Grund­lage für diese Abschiebung, die über Sprechak­te und Tas­tat­u­rak­te hin­aus­ge­ht. Die Worte („aus­ländis­che Ter­ror­is­ten“, „Mon­ster“) erledi­gen die Arbeit. Zwis­chen den Bewe­gun­gen der Mün­der und den Bewe­gun­gen der Kör­p­er gibt es keine Ver­fahren. Wenn es Mit­gliedern der Exeku­tive ges­tat­tet ist, Wahrheits­be­haup­tun­gen aufzustellen, die zur Folge haben, dass Men­schen die Vere­inigten Staat­en ver­lassen, befind­en wir uns in ein­er Dik­tatur. Wenn wir akzep­tieren, dass die Exeku­tive ein­fach jeden ausweisen kann, den sie als „aus­ländis­chen Ter­ror­is­ten“ beze­ich­net, dann hat kein­er von uns irgendwelche Rechte.

6. Die ver­wen­dete Sprache hat eine beson­dere Bedeu­tung, die in der Ver­gan­gen­heit dazu ver­wen­det wurde, den Regime­typ zu ändern. Es ist wichtig, dass die Rechte der Men­schen ver­let­zt wur­den. Es ist wichtig, dass die Rechtsstaatlichkeit ignori­ert wurde. Es ist wichtig, dass die Exeku­tive ver­sucht, die Real­ität zu definieren. Aber über die Fra­gen von richtig und falsch und Real­ität und Unwirk­lichkeit hin­aus geht es um Sprache und Ver­hal­ten. Wir müssen uns über­legen, wie die Worte aus­gewählt wer­den und was sie mit uns machen sollen. „Fremd“ bedeutet, dass sie nicht wir sind. „Außerirdisch“ bedeutet, dass wir sie has­sen soll­ten. „Ter­ror­ist“ bedeutet, dass wir sie so sehr has­sen soll­ten, dass wir einen Aus­nah­mezu­s­tand zulassen, nor­male Prak­tiken aus­set­zen und einen Regimewech­sel her­beiführen. Dafür gibt es eine lange Geschichte auf der ganzen Welt, ein­schließlich der von Hitler im Jahr 1933 und Stal­in im Jahr 1934.

7. In ein­er Orwellschen Verkehrung wer­den Vertei­di­ger des Geset­zes mit Krim­inellen in Verbindung gebracht. Der Sinn der Rechtsstaatlichkeit beste­ht darin, dass jed­er Men­sch eine gewisse Men­schen­würde besitzt, die es erfordert, dass er seinen Tag vor Gericht erhält, in Übere­in­stim­mung mit bes­timmten Ver­fahren. Ohne diese Anerken­nun­gen und diese Prozesse wis­sen wir nicht, wer ein Krim­ineller ist und wer nicht. Die Exeku­tive behauptet, dass sie Men­schen ein­fach als „Krim­inelle“ oder „Ter­ror­is­ten“ oder „Mon­ster“ beze­ich­nen kann – und dann behaupten kann, dass die Vertei­di­ger des Geset­zes mit Krim­inellen oder Mon­stern in Verbindung ste­hen. Auf diese Weise ver­leum­den die Per­so­n­en, die diese dik­ta­torische Aktion durch­führen, diejeni­gen, die die Ver­fas­sung vertei­di­gen, indem sie sie mit Ver­brechen in Verbindung brin­gen, und natür­lich mit den kör­per­lich­sten und unan­genehm­sten Ver­brechen. Dies ist eine Logik, die der Frei­heit völ­lig fremd ist und sie zer­stört.

8. Die Ver­leum­dungskam­pagne erstreckt sich auch auf poli­tis­che Geg­n­er. Die Exeku­tive behauptet, dass die Men­schen, die sie als „Ter­ror­is­ten“ beze­ich­nen, dank der vorsät­zlichen Hand­lun­gen der Biden-Regierung, der Demokrat­en usw. in den Vere­inigten Staat­en waren. „Das sind die Mon­ster“, sagt der Geschäfts­führer, „die von Crooked Joe Biden und den linksradikalen Demokrat­en in unser Land geschickt wur­den. Wie kön­nen sie es wagen!“ Auch hier wis­sen wir nicht, ob die Abgeschobe­nen irgendwelche Ver­brechen began­gen haben oder wer sie über­haupt sind. Wir sollen die mündlichen und schriftlichen Äußerun­gen von Per­so­n­en, die mit der Bun­desregierung in Verbindung ste­hen, als gen­er­a­tive, maßge­bliche Wahrheit in dieser Angele­gen­heit akzep­tieren. Die Schuld für die Exis­tenz „aus­ländis­ch­er Ter­ror­is­ten“ auf poli­tis­che Geg­n­er zu schieben, soll diese dele­git­imieren und ihren Platz in der poli­tis­chen Ord­nung unter­graben. Mit anderen Worten: Es ist ein Schlag gegen die Demokratie und die poli­tis­che Grund­frei­heit.

9. Jed­er kann ent­men­schlicht und als „Mon­ster“ dargestellt wer­den, und die Ent­men­schlichung geht von der Demü­ti­gung des Kör­pers aus. Wenn man einem dieser Deportierten eine bes­timmte Frisur ver­passt und ihn in einen Anzug steckt, sieht er aus wie ein Kabi­nettsmit­glied. Wenn man einem Kabi­nettsmit­glied die Haare abrasieren, es in einen Gefäng­nisover­all steck­en, seine Hände anket­ten und es dann zwis­chen zwei mask­ierte Män­ner stellen würde, die es im Froschgang zu einem Abschiebe­flugzeug brin­gen, würde es wie ein Krim­ineller ausse­hen. Die Fotos und Videos von Men­schen, denen dies ange­tan wird, sind ent­men­schlichend, und das mit Absicht. Wir sollen aus den Bildern schließen, dass diese Män­ner „Mon­ster“ oder „aus­ländis­che Ter­ror­is­ten“ sein müssen. Das Einzige, was wir daraus schließen soll­ten, ist, dass Per­so­n­en, die mit der aus­ländis­chen Regierung in Verbindung ste­hen, sich auf eine Weise ver­hal­ten, die völ­lig unvere­in­bar mit der Frei­heit unter dem Gesetz ist.

Gegen richterliche Anordnung: USA schieben Hunderte Venezolaner ab -  news.ORF.at10. Diese Abschiebung war als poli­tis­ches Spek­takel geplant. Die Abzuschieben­den wur­den sorgfältig aus­gewählt, eben­so wie die Sprache, in der sie beschrieben wur­den. Die Botschaft wurde offen­sichtlich im Voraus koor­diniert. Und das gesamte demüti­gende Ver­fahren wurde vor Kam­eras durchge­führt, die bere­its aufgestellt waren. Die Videos, die ver­bre­it­et wer­den, sind keine willkür­lich mit Mobil­tele­fo­nen aufgenomme­nen Auf­nah­men. Sie sind das Ergeb­nis fest instal­liert­er Kam­eras, die im Voraus aufgestellt wur­den und deren Kam­eraleute auf die Aktion warteten. Das Ergeb­nis ist ein Pro­pa­gandafilm, der den 1930er Jahren würdig ist, in dem der Führer durch ein Ver­fahren charis­ma­tis­ch­er Gewalt bes­timmt, was wahr und was falsch ist und wer ein Men­sch ist und wer nicht („Mon­ster“). Wenn Sie sich diese Filme anse­hen, bedenken Sie bitte, dass sie Sie in eine Poli­tik des „Wir und die anderen“ hineinziehen sollen, in eine Welt der Lügen und des Has­s­es jen­seits des Geset­zes, in ein neues Regime, das unsere Repub­lik erset­zen kann – aber nur mit Ihrer Zus­tim­mung.

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Mattiello am Mittwoch 25/13
Die Reichsidee 172

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