Was ist unter “Gemein­wohl” zu ver­ste­hen? — Nicht verza­gen, Wikipedia fra­gen:
Gemein­wohl wird ver­standen als Gegen­be­griff zu bloßen Einzel- oder Grup­pen­in­ter­essen inner­halb ein­er Gemein­schaft. Dabei bezog sich der Begriff des Gemein­wohls bei Aris­tote­les notwendig auf die örtliche Bürg­erge­mein­schaft (Polis). In der Stoa wurde er auf die ganze Men­schheit erweit­ert. Er kann heute auf jed­wede überindi­vidu­elle Gemein­schaft bezo­gen wer­den (Ehe, Fam­i­lie, Vere­in, Reli­gion­s­ge­mein­schaft, Region, Land, Volk, Völk­er ein­er Ver­trags­ge­mein­schaft, Welt­ge­mein­schaft usw., aber auch auf Welt, Natur, Uni­ver­sum).

Alles klar? — Nicht ganz, wie Wikipedia gle­ich hinzufügt:
Ein grundle­gen­der Dis­sens beste­ht im Hin­blick auf die Frage, ob man ein „Gemein­wohl “a pri­ori” find­en könne (wie die richtige Lösung ein­er ein­fachen Math­e­matikauf­gabe) oder ob das, was der All­ge­mein­heit nützt, als Ergeb­nis ein­er Bes­tim­mungsleis­tung von Betrof­fe­nen oder deren Vertretern, die sich in Ver­hand­lun­gen um einen Inter­esse­naus­gle­ich bemühen (Gemein­wohl a pos­te­ri­ori), zu betra­cht­en sei.

Diese Frage hat Erich Fromm auch beschäftigt. “a pri­ori” kön­nte zum Beispiel bedeuten, dass eine Expertenkom­mis­sion einen “Gemein­wohl-Kanon” fes­tlegt, oder dass dieser Kanon durch Mei­n­ung­sum­fra­gen oder Abstim­mungen ermit­telt wird.
Von Dekreten “von oben herab” hält Fromm nichts. Von Mei­n­ung­sum­fra­gen noch weniger:
Was sind denn die „Mei­n­un­gen“, auf denen die Umfra­gen basieren, anderes als die Ansicht­en von Men­schen, denen es an aus­re­ichen­der Infor­ma­tion und an Gele­gen­heit zu kri­tis­ch­er Reflex­ion und Diskus­sion fehlt? … Solche Mei­n­un­gen stellen nur die bewussten Ideen eines Men­schen zu einem bes­timmten Zeit­punkt dar; sie sagen uns nichts über die in tief­er­en Schicht­en vorhan­de­nen Ten­den­zen, die unter verän­derten Umstän­den zu den ent­ge­genge­set­zten Mei­n­un­gen führen kön­nen.

Gefragt ist — so Fromm — die Entwick­lung ein­er echt­en “Mitbes­tim­mungs­demokratie”:
Die Demokratie kann der Bedro­hung durch autoritäre Gesellschaften stand­hal­ten, wenn sie sich von ein­er pas­siv­en „Zuschauerdemokratie“ zu ein­er aktiv­en „Mitbes­tim­mungs­demokratie“ (par­tic­i­pa­to­ry democ­ra­cy) wan­delt, in der die Belange der Gemein­schaft für den Einzel­nen eben­so wichtig sind wie seine eige­nen Angele­gen­heit­en oder, noch bess­er, in der das Gemein­wohl von jedem Bürg­er als sein ure­igen­stes Anliegen ange­se­hen wird. Viele Men­schen haben fest­gestellt, dass ihr Leben inter­es­sant und anre­gend wurde, als sie anfin­gen, sich für Prob­leme der Gemein­schaft zu engagieren. Eine echte poli­tis­che Demokratie kann in der Tat als Gesellschafts­form definiert wer­den, in der das Leben genau das ist – inter­es­sant. Im Gegen­satz zu den „Volks­demokra­tien“ oder „zen­tral­is­tis­chen Demokra­tien“ ist eine solche Mitbes­tim­mungs­demokratie unbürokratisch und schafft ein Kli­ma, in dem Dem­a­gogen kaum gedei­hen.

Wie genau soll nun eine solche Mitbes­tim­mungs­demokratie funk­tion­ieren?
Fromm macht gle­ich zu Beginn klar:
Die Erar­beitung prak­tik­abler Meth­o­d­en für die Mitbes­tim­mungs­demokratie ist ver­mut­lich wesentlich schwieriger als die Konzep­tion ein­er demokratis­chen Ver­fas­sung im 18. Jahrhun­dert. Es wird unge­heur­er Anstren­gun­gen viel­er fähiger Men­schen bedür­fen, um die neuen Grund­sätze und Durch­führungs-bes­tim­mungen für den Auf­bau der Mitbes­tim­mungs­demokratie zu for­mulieren.

… und macht anschliessend einen Vorschlag, den er schon 1955 in seinem Essay “Wege aus der kranken Gesellschaft” erar­beit­ete, — und der erneut verdächtig nach anar­chis­tis­chem Gedankengut aussieht, näm­lich
die Bil­dung von Hun­dert­tausenden von Nach­barschafts­grup­pen (mit je ca. 500 Mit­gliedern), die sich selb­st als per­ma­nente Beratungs- und Entschei­dungs­gremien kon­sti­tu­ieren und über Grund­satzfra­gen auf den Gebi­eten der Wirtschaft, Außen­poli­tik, des Gesund­heits- und Bil­dungswe­sens und nach den Erfordernissen für das Wohl-Sein entschei­den. Diese Grup­pen sind mit allen rel­e­van­ten Infor­ma­tio­nen zu ver­sor­gen …; sie berat­en über diese Infor­ma­tio­nen (ohne Ein­flussnahme von außen) und stim­men über die jew­eili­gen Sach­fra­gen ab .… Die Gesamtheit dieser Grup­pen würde das „Unter­haus“ bilden, dessen Beschlüsse zusam­men mit denen von anderen poli­tis­chen Orga­nen entschei­den­den Ein­fluss auf die Geset­zge­bung hät­ten.

Ist das heute über­haupt noch mach­bar?

Dazu mehr in der näch­sten Folge am kom­menden Fre­itag, den 28. Feb­ru­ar.

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