Aus­ge­hend von der Renais­sance began­nen die rie­si­gen Umwäl­zun­gen unse­rer Sicht auf die Natur und die Welt, die von einer natur­wis­sen­schaft­li­chen Revo­lu­ti­on zur nächs­ten führ­ten und mit den damit ver­bun­de­nen tech­ni­schen Errun­gen­schaf­ten das Leben eines gros­sen Teils der Mensch­heit — vor allem im Wes­ten — grund­le­gend ver­än­der­ten. Doch die­se Sicht auf die Natur und die Welt hat uns gleich­zei­tig blind gemacht für uns selbst. Nach wie vor sind wir weit ent­fernt von einem har­mo­ni­schen Zusam­men­le­ben, nach wie vor ist unser Innen­le­ben trotz Psy­cho­lo­gie und Psy­cho­ana­ly­se ver­schie­dens­ter Spiel­ar­ten weit­ge­hen “ter­ra inco­gni­ta” geblieben.

Des­halb hält Erich Fromm fest:
Tech­ni­sche Uto­pien, bei­spiels­wei­se das Flie­gen, sind dank der neu­en Natur­wis­sen­schaft ver­wirk­licht wor­den. Die mensch­li­che Uto­pie des Mes­sia­ni­schen Zeit­al­ters – eine ver­ein­te neue Mensch­lich­keit, die frei von öko­no­mi­schen Zwän­gen, Krieg und Klas­sen­kampf in Soli­da­ri­tät und Frie­den mit­ein­an­der lebt – kann Wirk­lich­keit wer­den, wenn wir das glei­che Maß an Ener­gie, Intel­li­genz und Begeis­te­rung dafür auf­brin­gen, das wir für unse­re tech­ni­schen Uto­pien auf­wand­ten. Man kann nicht U‑Boote bau­en, indem man Jules Ver­ne liest; wir kön­nen kei­ne huma­nis­ti­sche Gesell­schaft schaf­fen, indem wir die Pro­phe­ten lesen.

Ob uns eine sol­che Umori­en­tie­rung vom Vor­rang der Natur­wis­sen­schaft auf eine neue Sozi­al­wis­sen­schaft glü­cken wird, kann nie­mand vor­her­sa­gen. Wenn ja, dann haben wir viel­leicht noch eine Über­le­bens­chan­ce, aber nur unter der Vor­aus­set­zung, dass vie­le her­vor­ra­gen­de gut aus­ge­bil­de­te, geschul­te und enga­gier­te Män­ner und Frau­en sich durch die neue Her­aus­for­de­rung an den mensch­li­chen Geist auf­ge­ru­fen füh­len – und durch die Tat­sa­che, dass die­ses Mal das Ziel nicht Herr­schaft über die Natur ist, son­dern Herr­schaft über die Tech­nik und über irra­tio­na­le gesell­schaft­li­che Kräf­te und Insti­tu­tio­nen, die das Über­le­ben der west­li­chen Gesell­schaft, wenn nicht gar der Mensch­heit bedrohen.

Es ist mei­ne Über­zeu­gung, dass unse­re Zukunft davon abhängt, ob das Bewusst­sein der gegen­wär­ti­gen Kri­se die fähigs­ten Men­schen moti­vie­ren wird, sich in den Dienst der neu­en huma­nis­ti­schen Wis­sen­schaft vom Men­schen zu stel­len, denn nur ihren kon­zer­tier­ten Anstren­gun­gen kann es gelin­gen, die „unlös­ba­ren“ Pro­ble­me zu lösen.

Nach einer Ana­ly­se, war­um das “mes­sia­ni­sche” Expe­ri­ment des Kom­mu­nis­mus mit dem Ziel einer klas­sen­lo­sen Gesell­schaft schei­tern muss­te, macht Fromm deut­lich, dass auch unse­re sog. “frei­heit­li­che Markt­wirt­schaft” kei­ne Ant­wort auf die Fra­ge geben kann, wie eine wahr­haf­tig mensch­li­che — an den wah­ren Bedürf­nis­sen der Men­schen aus­ge­rich­te­te Gesell­schafts­ord­nung — errich­tet wer­den kann:

Wenn Wirt­schaft und Poli­tik der mensch­li­chen Ent­wick­lung unter­ge­ord­net wer­den sol­len, dann muss das Modell der neu­en Gesell­schaft auf die Erfor­der­nis­se des nicht-ent­frem­de­ten, am Sein ori­en­tier­ten Indi­vi­du­ums aus­ge­rich­tet wer­den. Das bedeu­tet, dass Men­schen weder gezwun­gen sein sol­len, in ent­wür­di­gen­der Armut zu leben – immer noch das Pro­blem des größ­ten Teils der Mensch­heit noch durch die der kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaft inne­woh­nen­den Geset­ze, die eine stän­di­ge Zunah­me der Pro­duk­ti­on und damit auch des Ver­brauchs erfor­dern, zu einer Exis­tenz als Homo con­su­mens ver­ur­teilt wer­den dür­fen, wie dies heu­te für die kauf­kräf­ti­gen Schich­ten der Indus­trie­staa­ten zutrifft. Wenn die Men­schen jemals frei wer­den, das heißt, dem Zwang ent­rin­nen sol­len, die Indus­trie durch patho­lo­gisch über­stei­ger­ten Kon­sum auf Tou­ren zu hal­ten, dann ist eine radi­ka­le Ände­rung des Wirt­schafts­sys­tems von­nö­ten: Dann müs­sen wir der gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on ein Ende machen, in der eine gesun­de Wirt­schaft nur um den Preis kran­ker Men­schen mög­lich ist. Unse­re Auf­ga­be ist es, eine gesun­de Wirt­schaft für gesun­de Men­schen zu schaffen.

Doch wie soll das kon­kret gesche­hen? Fromm stellt dazu einen For­de­rungs­ka­ta­log vor, den wir uns das nächs­te Mal am Frei­tag, den 31. Janu­ar anschauen.

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