Nach der tiefge­hen­den Analyse, woran der mod­erne west­liche Men­sch und die Gesellschaft, in der er lebt, krankt, machte sich Erich Fromm Gedanken, welche Voraus­set­zun­gen erfüllt und welche Wege eingeschla­gen wer­den müssen, damit ein fun­da­men­taler Wan­del der men­schlichen Charak­ter­struk­tur von der Ori­en­tierung am Haben zugun­sten der am Sein ermöglicht wird.

Diese Voraus­set­zun­gen hat Fromm in fol­gen­den vier Punk­ten zusam­menge­fasst:
Wir lei­den und sind uns dessen bewusst.
Wir haben die Ursache unseres Lei­dens … erkan­nt.
Wir sehen eine Möglichkeit, unser Lei­den zu über­winden.
Wir sehen ein, dass wir uns bes­timmte Ver­hal­tensnor­men zu eigen machen und unsere gegen­wär­tige Leben­sprax­is ändern müssen, um unser Lei­den zu über­winden.

Wer sich beim Lesen an die vier edlen Wahrheit­en des Bud­dha erin­nert fühlt, liegt natür­lich vol­lkom­men richtig. Span­nend ist nun aber, dass Fromm aufzeigt, wie die gle­iche Ein­sicht auch bei Karl Marx und bei Sig­mund Freud zu find­en ist:
Marx ver­suchte, der dama­li­gen vere­len­de­ten Arbeit­erk­lasse bewusst zu machen, dass sie litt, ihr die Ursachen für dieses Lei­den klarzu­machen, einen Weg für dessen Über­win­dung aufzuzeigen und dann die Prinzip­i­en ein­er neuen Leben­sprax­is vorzustellen.
(Dass sein Anliegen nicht wirk­lich ver­standen wurde, hat der real existierende Sozial­is­mus lei­der in aller Deut­lichkeit klar gemacht.)
Freud sein­er­seits ver­suchte, den lei­den­den Patien­ten bewusst zu machen, weshalb und woran sie lit­ten. Doch allzu häu­fig blieben Psy­cho­an­a­lytik­er auf halbem Wege ste­hen:
Das Wesentliche des psy­cho­an­a­lytis­chen Prozess­es beste­ht darin, dem Patien­ten die Ursachen seines Lei­dens bewusst zu machen.
Auf­grund dieser Erken­nt­nis kann der Analysand den näch­sten Schritt machen: Er kommt zu der Ein­sicht, dass sein Lei­den heil­bar ist, voraus­ge­set­zt, dass dessen Ursachen beseit­igt wer­den. Nach Freuds Auf­fas­sung bedeutet das, die Ver­drän­gung bes­timmter Kind­heit­sereignisse aufzuheben.
Die tra­di­tionelle Psy­cho­analyse scheint jedoch oft die Notwendigkeit des vierten Punk­tes zu unter­schätzen. Viele Psy­cho­an­a­lytik­er sind der Mei­n­ung, die Bewusst­machung des Ver­drängten habe als solche schon heilende Wirkung. Dies ist tat­säch­lich oft der Fall, speziell wenn der Patient an scharf umgren­zten Symp­tomen etwa hys­ter­isch­er oder zwang­hafter Art lei­det.
Aber ich glaube nicht, dass bei Per­so­n­en, die unter einem dif­fusen Unbe­ha­gen lei­den und deren Charak­ter verän­dert wer­den soll, eine dauer­hafte Besserung erzielt wer­den kann, falls die angestrebte Charak­terän­derung nicht von ein­er entsprechen­den Änderung ihrer Leben­sprax­is begleit­et wird.
Beispiel­sweise kann man die Abhängigkeit eines Men­schen bis zum Jüng­sten Tag analysieren die ganze Ein­sicht wird ihm nichts nützen, solange sich an den Leben­sum­stän­den nichts ändert, unter denen er lebte, bevor er seine Ein­sicht­en gewann.

Anschliessend ver­suchte Fromm, Aspek­te der zu erstreben­den neuen Charak­ter­struk­tur zusam­men­zustellen.

Dazu mehr nach der Wei­h­nachtspause am kom­menden Fre­itag, den 10. Jan­u­ar 2025.

An anderen Serien inter­essiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink / Nar­rengeschicht­en / Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­woche und Don­ald Trump / Die Welt­woche und der Kli­mawan­del / Die Welt­woche und der liebe Gott /Lebendi­ge Birs / Aus mein­er Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reich­sidee /Voge­sen Aus mein­er Bücherk­iste / Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­bach­er  / A Basic Call to Con­scious­ness Leon­hard Ragaz / Chris­ten­tum und Gno­sis / Hel­ve­tia — quo vadis? / Aldous Hux­ley / Dle WW und die Katholis­che Kirche / Trump Däm­merung

Tür.li 20 (2024) von Max Feurer
Schande.

Deine Meinung