Im dritten Kapitel seines Buchs “Haben oder Sein” betritt Erich Fromm das Minenfeld der Religion in ihrem jüdisch-christlichen Gewand. Angesichts der Tatsache, dass sich neuerdings Machthaber und Möchtegern-Machthaber wieder ein religiöses Mäntelchen umhängen — zum Beispiel Putin ein orthodoxes, Trump ein evangelikales — macht es Sinn, einen Blick auf die Interpretation Fromms des Neuen und Alten Testaments zu werfen. Mit dem ersten Satz zum Alten Testament fasst er eine zentrale Botschaft zusammen:
Verlasse, was du hast, befreie dich von allen Fesseln, sei!
Dieser Aufforderung kommt zuerst Abraham nach:
„Zieh weg aus deinem Land, aus deiner Heimat und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (Gen 12,1). Er soll aufgeben, was er hat – Grund und Boden und Familie und in das Unbekannte hinausziehen. Doch seine Nachkommen besiedeln ein neues Gebiet und ein neuer „Sippengeist“ entwickelt sich. Dieser Prozess führt zu schwerer Knechtschaft.
Es folgt Moses, der die Hebräer aus der Knechtschaft in die Wüste führt:
Die Wüste ist das Schlüsselsymbol in dieser Befreiung. Sie ist kein Zuhause, sie hat keine Städte, sie hat keine Reichtümer, sie ist das Land der Nomaden, die haben, was sie brauchen, das heißt nur das Lebensnotwendige, keine Besitztümer. Historisch gesehen ist der Bericht über den Exodus mit nomadischen Traditionen verwoben; es ist gut möglich, dass diese nomadischen Traditionen die Tendenz gegen jedes nichtfunktionale Eigentum und die Entscheidung für das Leben in der Wüste als Vorbereitung für ein Leben in Freiheit beeinflusst haben.
Aber diese historischen Faktoren unterstreichen nur die Bedeutung der Wüste als einem Symbol des freien, durch keinen Besitz beschwerten Lebens. In der Wüste haben einige der wichtigsten Symbole jüdischer Feste ihren Ursprung. Das ungesäuerte Brot ist das Brot derjenigen, die rasch aufbrechen müssen, es ist das Brot der Wanderer. Die Suka (die Laubhütte) ist die Heimstatt des Wanderers; sie entspricht dem Zelt, ist eine schnell errichtete und schnell abgebrochene Behausung. Im Talmud wird sie als „provisorische Heimstatt“ definiert, zum Unterschied von der „festen Heimstatt“, die man besitzt.
Leider fallen die Hebräer schon bald wieder in den “Haben”-Modus zurück:
Eine ganze Generation war gestorben und selbst Moses durfte das neue Land nicht betreten. Doch die neue Generation war ebenso wenig imstande, frei und ohne Bindung an ein Land zu leben, wie die der Väter. Sie erobern neues Gebiet, rotten ihre Feinde aus, besiedeln deren Land und verehren deren Götzen. Ihr demokratisches Stammesleben vertauschen sie mit einem orientalischen Despotismus, zwar von bescheidenen Dimensionen, aber umso beflissener in der Nachahmung der damaligen Großmächte. Die Revolution war gescheitert, die einzige bleibende Errungenschaft, wenn man es so nennen könnte, war, dass die Hebräer nun Herren und nicht mehr Sklaven waren.
Doch ein kleines Grüppchen kämpft darum, ihre Stammesgenossen wieder zum “Seins-Modus” zurückzuführen, die Propheten:
Diese revolutionären Denker … erneuerten die Vision menschlicher Freiheit, der Ungebundenheit durch Besitz, und sie protestierten gegen die Unterwerfung unter Götzen, die das Werk von Menschenhand waren. Sie waren kompromisslos und sagten voraus, dass das Volk wieder aus dem Land vertrieben werden würde, wenn es sich inzestuös daran klammere und nicht imstande sei, frei darin zu leben, das heißt es zu lieben, ohne sich darin zu verlieren. Für die Propheten war die Vertreibung aus dem Land eine Tragödie, aber der einzige Weg zu endgültiger Befreiung – die neue Wüste, die nicht einer, sondern vielen Generationen eine Bleibe bieten sollte.
Die würdigen Nachfolger der Propheten waren nach der grossen Katastrophe der Vertreibung durch die Römer die Rabbiner, … allen voran der Gründer der Diaspora: Rabbi Jochanan ben Zakkai. Als die Anführer des Krieges gegen die Römer (70 n. Chr.) entschieden, dass es besser für alle sei, zu sterben, als die Niederlage und den Verlust des Staates in Kauf zu nehmen, beging er „Verrat“. Er verließ heimlich Jerusalem, ergab sich dem römischen General und bat um Erlaubnis, eine jüdische Universität zu gründen. Dies war der Beginn einer reichen jüdischen Tradition und gleichzeitig der Verlust von allem, was die Juden gehabt hatten: ihren Staat, ihren Tempel, ihre priesterliche und militärische Bürokratie, ihre Opfertiere und ihre Rituale. Alles war verloren; nichts war ihnen (als Gruppe) geblieben als das Ideal des Seins: Wissen, Lernen, Denken und die Hoffnung auf den Messias.
In der nächsten Folge am Freitag, den 3. Mai werfen wir mit Erich Fromm einen Blick auf das Neue Testament.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz / Christentum und Gnosis / Helvetia — quo vadis? / Aldous Huxley / Dle WW und die Katholische Kirche / Trump Dämmerung