Ein wei­te­res Feld, in dem Erich Fromm die “Sein-Haben-Dicho­to­mie” auf­zeigt, ist “Lie­ben”:
Auch Lie­ben hat, je nach­dem, ob davon in der Wei­se des Habens oder der des Seins die Rede ist, zwei Bedeutungen.
Kann man Lie­be “haben”? Wenn man das könn­te, wäre Lie­be ein Ding, eine Sub­stanz, mit­hin etwas, das man haben und besit­zen kann. Die Wahr­heit ist, dass es kein sol­ches Ding wie “Lie­be” gibt. “Lie­be” ist eine Abs­trak­ti­on; viel­leicht eine Göt­tin oder ein frem­des Wesen, obwohl nie­mand je die­se Göt­tin gese­hen hat.
In Wirk­lich­keit gibt es nur den Akt des Lie­bens. Lie­ben ist ein pro­duk­ti­ves Tätig­sein, es impli­ziert, für jeman­den (oder etwas) zu sor­gen, ihn zu ken­nen, auf ihn ein­zu­ge­hen, sich an ihm zu erfreu­en — sei es ein Mensch, ein Baum, ein Bild, eine Idee. Es  bedeu­tet, ihn (sie, es) zum Leben zu erwe­cken, sei­ne (ihre) Leben­dig­keit zu stei­gern. Es ist ein Pro­zess, der einen erneu­ert und wach­sen lässt

Dem gegen­über stellt er die Pseu­do-Lie­be des Habens:
Wird Lie­be aber in der Wei­se des Habens erlebt, so bedeu­tet dies, das Objekt, das man “liebt”,  ein­zu­schrän­ken, gefan­gen zu neh­men oder zu kon­trol­lie­ren. Eine sol­che Lie­be ist erwür­gend, läh­mend, ersti­ckend, tötend statt bele­bend. Was als Lie­be bezeich­net wird, ist meist ein Miss­brauch des Wor­tes, um zu ver­schlei­ern, dass in Wirk­lich­keit nicht geliebt wird. Es ist immer noch eine offe­ne Fra­ge, wie vie­le Eltern ihre Kin­der lieben. 

Dass Erich Fromm mit die­ser Fest­stel­lung schon damals zurecht auf die­ses mehr oder weni­ger tabui­sier­te The­ma hin­wies, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren SelbstMarsist seit den Büchern von Ali­ce Mil­ler (“Das Dra­ma des begab­ten Kin­des”) oder dem Best­sel­ler “Mars” von Fritz Zorn ver­mehrt in das öffent­li­che Bewusst­sein gerückt.

Die offe­ne Fra­ge gilt auch für die Ehe:
Ob sie auf Lie­be beruht oder, wie tra­di­tio­nel­le Ehen, auf gesell­schaft­li­chen Kon­ven­tio­nen und Sit­te ‑Paa­re, die ein­an­der wirk­lich lie­ben, schei­nen die Aus­nah­me zu sein. Gesell­schaft­li­che Zweck­dien­lich­keit, Tra­di­ti­on, bei­der­sei­ti­ges öko­no­mi­sches Inter­es­se, gemein­sa­me Für­sor­ge für Kin­der, gegen­sei­ti­ge Abhän­gig­keit oder Furcht, gegen­sei­ti­ger Hass wer­den bewusst als “Lie­be” erlebt — bis zu dem Augen­blick, wenn einer oder bei­de erken­nen, dass sie ein­an­der nicht lie­ben und nie liebten.
Heu­te kann man in die­ser Hin­sicht einen gewis­sen Fort­schritt fest­stel­len: Die Men­schen sind nüch­ter­ner und rea­lis­ti­scher gewor­den, und vie­le ver­wech­seln sexu­el­le Anzie­hung nicht mehr mit Lie­be, noch hal­ten sie eine freund­schaft­li­che, aber distan­zier­te Team­be­zie­hung für ein Äqui­va­lent von Lie­be. Die­se neue Ein­stel­lung hat zu grös­se­rer Ehr­lich­keit — und zu häu­fi­ge­rem Part­ner­wech­sel — geführt. Sie hat nicht unbe­dingt dazu geführt, dass man nun häu­fi­ger Men­schen trifft, die sich lie­ben, die neu­en Part­ner lie­ben sich mög­li­cher­wei­se genau­so wenig wie die alten.

Und er weist auf die Fal­le hin, in die frisch “Ver­lieb­te” nach ein paar Jah­ren regel­mäs­sig stolpern:
In der Zeit der Wer­bung ist sich einer des ande­ren noch nicht sicher; die Lie­ben­den suchen ein­an­der zu gewin­nen. Sie sind leben­dig, attrak­tiv, inter­es­sant und sogar schön — da Leben­dig­keit ein Gesicht immer ver­schönt. Kei­ner hat den ande­ren schon, also wen­det jeder sei­ne Ener­gie dar­auf, zu sein, das heisst zu geben und zu stimulieren.

Häu­fig ändert sich mit der Ehe­schlie­ßung die Situa­ti­on grund­le­gend. Der Ehe­ver­trag gibt bei­den das exklu­si­ve Besitz­recht auf den Kör­per, die Gefüh­le, die Zuwen­dung des ande­ren. Nie­mand muss mehr gewon­nen wer­den, denn die Lie­be ist zu etwas gewor­den, das man hat, zu einem Besitz.

Die bei­den las­sen in ihrem Bemü­hen nach, lie­bens­wert zu sein und Lie­be zu erwe­cken, sie wer­den lang­wei­lig, und ihre Schön­heit schwin­det. Sie sind ent­täuscht und rat­los. Sind sie nicht mehr die­sel­ben? Haben sie von Anfang an einen Feh­ler gemacht? Gewöhn­lich suchen sie die Ursa­che der Ver­än­de­rung beim ande­ren und füh­len sich betro­gen. Was sie nicht begrei­fen, ist, dass sie bei­de nicht mehr die Men­schen sind, die sie waren, als sie sich inein­an­der ver­lieb­ten; dass der Irr­tum, man kön­ne Lie­be haben, sie dazu ver­lei­te­te, auf­zu­hö­ren zu lie­ben. Sie arran­gie­ren sich nun auf die­ser Ebe­ne und statt ein­an­der zu lie­ben, besit­zen sie gemein­sam, was sie haben: Geld, gesell­schaft­li­che Stel­lung, ein Zuhau­se, Kin­der. Die mit Lie­be begin­nen­de Ehe ver­wan­delt sich so in eini­gen Fäl­len in eine freund­schaft­li­che Eigen­tü­mer­ge­mein­schaft, eine Kör­per­schaft, in der zwei Ego­is­men sich ver­ei­nen: die „Fami­lie“.

Doch Fromm ist nicht gegen eine ehe­li­che Ver­bin­dung per se:
Die­se Fest­stel­lun­gen schlie­ßen nicht aus, dass die Ehe der bes­te Weg für zwei Men­schen sein kann, die ein­an­der lie­ben. Die Pro­ble­ma­tik liegt nicht in der Ehe als sol­cher, son­dern in der besitz­ori­en­tier­ten Cha­rak­ter­struk­tur bei­der Part­ner und, letz­ten Endes, der Gesell­schaft, in der sie leben. Die Befür­wor­ter moder­ner For­men des Zusam­men­le­bens wie Grup­pen­ehe, Part­ner­tausch, Grup­pen­sex etc. ver­su­chen, soweit ich das sehen kann, nur, ihre Schwie­rig­kei­ten in der Lie­be zu umge­hen, indem sie die Lan­ge­wei­le mit stän­dig neu­en Sti­mu­li bekämp­fen und die Zahl der Part­ner erhö­hen, statt einen wirk­lich zu lieben.

Die­sem grund­le­gen­den Unter­schied zwi­schen einer “Seins”-Liebe und einer “Haben”-Pseudoliebe geht Erich Fromm in sei­nem immer noch höchst lesens­wer­ten Best­sel­ler “Die Kunst des Lie­bens” ver­tief­ter nach.

Nächs­te Fol­ge am  kom­men­den Frei­tag, den 26. April

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