Ist die westliche Welt christlich? fragt Erich Fromm in “Haben oder Sein”, — und verneint:
Obwohl diese Frage üblicherweise bejaht wird, zeigt eine gründlichere Analyse, dass die Bekehrung Europas zum Christentum weitgehend an der Oberfläche blieb; dass man höchstens von einer begrenzten Bekehrung zum Christentum zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert sprechen könnte und dass in den Jahrhunderten davor und danach die Bekehrung im Großen und Ganzen eine Bekehrung zu einer Ideologie … blieb, begleitet von einer mehr oder weniger weitgehenden Unterwerfung unter die Kirche; und dass sie nicht mit einem Wandel des Herzens, das heißt einer Veränderung der Charakterstruktur einherging. Ausnahmen sind allerdings die zahlreichen echt christlichen Bewegungen.
Diese Verneinung begründet er anschliessend detailliert:
Der Nachweis erübrigt sich, dass die westliche Geschichte eine Geschichte der Eroberung, Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung ist. Kaum eine Epoche, die nicht davon gekennzeichnet ist, keine Rasse oder Klasse, die frei davon wäre; oft ging die Gewaltanwendung bis zum Völkermord wie bei den Indianern Amerikas, und selbst solche religiösen Unternehmungen wie die Kreuzzüge bilden keine Ausnahme.
War dieses Verhalten nur an der Oberfläche ökonomisch und politisch motiviert, und waren die Sklavenhändler, die Herrscher Indiens, die Vernichter der Indianer, die Engländer, die die Chinesen zwangen, Opium in ihr Land zu lassen, die Verantwortlichen für zwei Weltkriege und diejenigen, die für den nächsten Krieg rüsten – waren und sind alle diese in ihrem Innersten Christen? Oder waren vielleicht nur die Anführer raubgierige Heiden, während die breiten Massen der Bevölkerung Christen blieben?
Wenn dem so wäre, dann wäre uns wohl leichter ums Herz. Leider ist es nicht so. Zwar stimmt es, dass die Anführer oft beutegieriger waren als ihre Gefolgschaft, weil sie mehr zu gewinnen hatten, aber sie hätten ihre Pläne nicht verwirklichen können, wenn der Wunsch, zu erobern und über andere zu siegen, nicht im Gesellschafts-Charakter verwurzelt gewesen wäre und es noch immer ist.
Erich Fromm formulierte diese harte Kritik in den 70er-Jahren. Ist sie aber auch für die heutige Zeit noch gültig? Beschwören Staatsoberhäupter wie Putin oder Orban nicht die Rückkehr zu christlichen Werten? Wird in den USA nicht gerade die Bewegung des Dominionismus oder des Seven Mountains Mandate’s immer stärker, die einen Staat fordern, der ganz nach christlichen Prinzipien aufgebaut und gelenkt werden sollte?
Sowohl Putin wie die amerikanischen Evangelikalen des Seven Mountains Mandate prangern die fortschreitende Dekadenz der westlichen Gesellschaft lauthals an. Zurück zu den Grundprinzipien des Christentums!!
Schön wär’s .… Was wir aktuell erleben, ist der Aufstieg eines “Fake-Christentums”, das sich in den kommenden Jahren zu einer realen Gefahr für die wahren christlichen Werte entwickeln könnte. Diese wahren Werte sah Erich Fromm in Europa des 12. bis 16. Jahrhunderts wenigstens ansatzweise verwirklicht:
In diesen vier Jahrhunderten begann die eigentliche Christianisierung Europas. Die Kirche versuchte, in Fragen des Eigentums, der Preise und der Unterstützung der Armen die Anwendung christlicher Grundsätze durchzusetzen. Viele, zum Teil ketzerische Prediger und Sekten traten – häufig unter dem Einfluss der Mystik – auf, die die Rückkehr zu den Prinzipien Christi einschließlich der Verurteilung von Eigentum forderten.
Die Mystik, die mit Meister Eckhart ihren Höhepunkt erreichte, spielte in dieser antiautoritär-humanistischen Bewegung eine entscheidende Rolle, und nicht zufällig wurden in dieser Bewegung viele Frauen als mystische Lehrer und Schüler bekannt. Die Idee einer Weltreligion bzw. eines einfachen, undogmatischen Christentums wurde von vielen christlichen Denkern geäußert. Selbst der Gottesbegriff der Bibel wurde in Frage gestellt.
In ihrer Philosophie und ihren Utopien setzten die theologischen und nichttheologischen Humanisten der Renaissance die Linie des 13. Jahrhunderts fort; in der Tat existiert zwischen dem späten Mittelalter (der „mittelalterlichen Renaissance“) und der eigentlichen Renaissance keine scharfe Trennungslinie. .…
und er zitiert folgende Passage aus dem Buch “The Mind of the Middle Ages. A Historical Survey” des französisch-amerikanischen Historikers Frederick B. Artz:
In Bezug auf die Gesellschaft vertraten die großen Denker des Mittelalters die Ansicht, dass vor Gottes Angesicht alle Menschen gleich seien und selbst der geringste unendlich wertvoll sei. In wirtschaftlicher Hinsicht lehrten sie, dass Arbeit eine Quelle der Menschenwürde, nicht der Degradierung sei, dass kein Mensch für einen Zweck benutzt werden solle, der nicht seinem Wohl diene, und dass Löhne und Preise von Gerechtigkeit diktiert sein müssten.
In Bezug auf die Politik lehrten sie, dass der Staat eine moralische Funktion zu erfüllen habe, dass die Gesetze und ihre Anwendung vom christlichen Geist der Gerechtigkeit getragen sein sollten, und dass das Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten stets auf gegenseitige Verpflichtung begründet sein solle. Staat, Eigentum und Familie sind von Gott denjenigen anvertraut, die diesen vorstehen, und müssen dem göttlichen Willen entsprechend geleitet und verwaltet werden.
Zu den mittelalterlichen Idealen zählte schließlich auch die feste Überzeugung, dass alle Nationen und Völker eine große Gemeinschaft bilden. Wie Goethe sagte: „Über den Nationen steht die Menschheit“, oder wie Edith Cavell 1914 am Abend vor ihrer Hinrichtung an den Rand ihres Exemplars der Imitatio Christi schrieb: „Patriotismus ist nicht genug“.
Wir bleiben auch in der nächsten Folge am kommenden Freitag, den 18. Oktober bei Erich Fromm’s Überlegungen zum Christentum.
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