… und hier folgt die Fort­set­zung des Aus­zugs aus dem bewe­gen­den Bericht Hux­leys am Ster­be­bett sei­ner Frau Maria:
Kurz vor drei Uhr am Sams­tag­mor­gen kam die Nacht­schwes­ter und teil­te uns mit, dass der Puls schwach sei. Ich setz­te mich an Mari­as Bett und beug­te mich von Zeit zu Zeit zu ihr hin­über und sprach in ihr Ohr. Ich sag­te ihr, dass ich bei ihr war und immer bei ihr sein wür­de, in jenem Licht, das die zen­tra­le Wirk­lich­keit unse­res Seins ist.
Ich sag­te ihr, dass sie von mensch­li­cher Lie­be umge­ben sei und dass die­se Lie­be die Mani­fes­ta­ti­on einer grö­ße­ren Lie­be sei, von der sie umhüllt und getra­gen wer­de. Ich sag­te ihr, sie sol­le los­las­sen, den Kör­per ver­ges­sen, ihn wie ein Bün­del alter Klei­der hier lie­gen las­sen und sich tra­gen las­sen, wie ein Kind in das Herz des rosi­gen Lichts der Lie­be getra­gen wird.
Sie wuss­te, was Lie­be ist, war zur Lie­be fähig gewe­sen, wie nur weni­ge Men­schen es sind. Jetzt muss sie in die Lie­be vor­sto­ßen, muss sich in die Lie­be hin­ein­tra­gen las­sen, immer tie­fer und tie­fer, damit sie end­lich fähig ist, so zu lie­ben, wie Gott liebt — alles zu lie­ben, unend­lich zu lie­ben, ohne zu urtei­len, ohne zu ver­ur­tei­len, ohne zu begeh­ren oder zu ver­ab­scheu­en.
Und dann kam der Frie­de. Wie lei­den­schaft­lich hat­te sie sich aus der Tie­fe einer Müdig­keit her­aus, die durch Krank­heit und eine schwa­che Kon­sti­tu­ti­on oft bis zum Uner­träg­li­chen ver­stärkt wor­den war, nach Frie­den gesehnt! Und nun wür­de sie Frie­den haben. Und wo Frie­den und Lie­be herr­schen, da wird auch Freu­de herr­schen.
Und der Strom der far­bi­gen Lich­ter trug sie zum wei­ßen Licht des rei­nen Seins, das die Quel­le aller Din­ge und die Ver­söh­nung aller Gegen­sät­ze in der Ein­heit ist. Und sie soll­te nicht nur ihren armen Kör­per ver­ges­sen, son­dern auch die Zeit, in der die­ser Kör­per gelebt hat­te. Sie soll­te die Ver­gan­gen­heit ver­ges­sen, ihre alten Erin­ne­run­gen hin­ter sich las­sen. Bedau­ern, Nost­al­gie, Reue, Befürch­tun­gen — all das waren Bar­rie­ren zwi­schen ihr und dem Licht. Sie soll­te sie ver­ges­sen, völ­lig ver­ges­sen, und trans­pa­rent in der Gegen­wart des Lichts ste­hen, es in sich auf­neh­men und sich mit ihm eins machen las­sen im zeit­lo­sen Jetzt des gegen­wär­ti­gen Augen­blick. “Frie­den jetzt”, wie­der­hol­te ich immer wie­der. “Frie­den, Lie­be, Freu­de jetzt. Jetzt sein.”

Wäh­rend der letz­ten Stun­de saß oder stand ich mit mei­ner lin­ken Hand auf ihrem Kopf und der rech­ten auf ihrem Solar­ple­xus. … Für ein unru­hi­ges Kind, für einen kran­ken oder müden Erwach­se­nen scheint es etwas Beru­hi­gen­des und Erfri­schen­des zu haben, sich in einem sol­chen Kreis­lauf zu befin­den. Und so war es auch in die­ser Extrem­si­tua­ti­on. Das Atmen wur­de ruhi­ger und ich hat­te den Ein­druck, dass es eine Art Befrei­ung gab.
Ich fuhr mit mei­nen Vor­schlä­gen und Mah­nun­gen fort, redu­zier­te sie auf ihre ein­fachs­te Form und wie­der­hol­te sie dicht am Ohr. “Los­las­sen, los­las­sen. Ver­giss den Kör­per, lass ihn hier lie­gen, er ist jetzt unwich­tig. Geh vor­wärts ins Licht. Lass dich ins Licht tra­gen. Kei­ne Erin­ne­run­gen, kein Bedau­ern, kein Zurück­bli­cken, kei­ne besorg­ten Gedan­ken über die eige­ne Zukunft oder die eines ande­ren. Nur Licht. Nur die­ses rei­ne Sein, die­se Lie­be, die­se Freu­de. Und vor allem die­ser Frie­den. Frie­den in die­sem zeit­lo­sen Moment, Frie­den jetzt, Frie­den jetzt!”

Als das Atmen auf­hör­te, etwa um sechs Uhr, geschah dies ohne jeg­li­chen Kampf.
(aus: Lau­ra Hux­lex, This Tim­e­l­ess Moment)

Fort­set­zung am kom­men­den Sams­tag, den 19. Okto­ber.

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