Erich Fromm kommt anschliessend auf ein zen­trales Bedürf­nis im Men­schen zu sprechen: nicht allein zu sein. Immer wieder tauchen in Zeitschriften Artikel auf, die sich mit der — erzwun­genen — Ein­samkeit inmit­ten von Städten und Men­schen­massen auseinan­der­set­zen und auf die damit ver­bun­de­nen gesund­heitlichen Risiken hin­weisen — z.B. für Herz-Kreis­lauf-Erkrankun­gen.

Fromm: Das men­schliche Ver­lan­gen, ein Gefühl des Eins­seins mit anderen zu erleben, wurzelt in den Exis­tenzbe­din­gun­gen der Spezies Men­sch und stellt eine der stärk­sten Antrieb­skräfte des men­schlichen Ver­hal­tens dar. Durch die Kom­bi­na­tion von min­i­maler instink­tiv­er Deter­minierung und max­i­maler Entwick­lung der geisti­gen Fähigkeit­en haben wir Men­schen unsere ursprüngliche Ein­heit mit der Natur ver­loren. Um uns nicht vol­lkom­men isoliert zu fühlen und damit dem Wahnsinn preis­gegeben zu sein, müssen wir eine neue Ein­heit – mit unseren Mit­men­schen und mit der Natur – entwick­eln. Dieses men­schliche Bedürf­nis nach dem Ein­swer­den mit anderen wird auf vielfache Weise erlebt: in der sym­bi­o­tis­chen Bindung an die Mut­ter, an ein Idol, an den Stamm, die Nation, die (eigene) Klasse, die Reli­gion, eine Stu­den­ten­verbindung, die Beruf­sor­gan­i­sa­tion. Diese Bindun­gen über­schnei­den sich natür­lich vielfach und nehmen gele­gentlich eksta­tis­che For­men an, wie bei den Mit­gliedern religiös­er Sek­ten, einem Lynch­mob oder den Exzessen nationaler Hys­terie im Krieg.

Als Parade­beispiel dafür führt er die all­ge­meine Kriegs­begeis­terung beim Aus­bruch des 1. Weltkriegs an:
Über Nacht gaben Men­schen lebenslange Überzeu­gun­gen wie Paz­i­fis­mus, Anti­mil­i­taris­mus oder Sozial­is­mus auf; Wis­senschaftler ver­gaßen ihre jahrzehn­te­lange Schu­lung in Objek­tiv­ität, kri­tis­chem Denken und Unparteilichkeit, um an diesem großen Wir-Gefühl teilzuhaben.

Aber er hätte ger­ade so  gut die Massen­hys­te­rien im Drit­ten Reich nen­nen kön­nen, als Aber­tausende Hitler zujubel­ten: “Führer, befiehl! Wir fol­gen.”

Nach Fromm ist die Angst, zum Aussen­seit­er zu wer­den, noch gröss­er als die Angst vor dem Tode.

Er fol­gert: Entschei­dend für jede Gesellschaft ist die Art von Ein­heit­ser­leb­nis und von Sol­i­dar­ität, die sie fördert bzw. unter den gegebe­nen Bedin­gun­gen ihrer sozioökonomis­chen Struk­tur fördern kann.
Diese Über­legun­gen lassen den Schluss zu, dass bei­de Ten­den­zen im Men­schen vorhan­den sind: die eine, zu haben, zu besitzen, eine Kraft, die let­ztlich ihre Stärke dem biol­o­gisch gegebe­nen Wun­sch nach Über­leben ver­dankt; die andere, zu sein, die Bere­itschaft zu teilen, zu geben und zu opfern, die ihre Stärke den spez­i­fis­chen Bedin­gun­gen der men­schlichen Exis­tenz ver­dankt, speziell in dem einge­bore­nen Bedürf­nis durch Eins­sein mit anderen die eigene Isolierung zu über­winden. Aus der Exis­tenz dieser bei­den gegen­sät­zlichen Anla­gen in jedem Men­schen ergibt sich, dass die Gesellschaftsstruk­tur und deren Werte und Nor­men darüber entschei­den, welche von bei­den Möglichkeit­en dom­i­nant wird. Gesellschaften, die das Besitzstreben und damit die Exis­ten­zweise des Habens begün­sti­gen, wurzeln in dem einen men­schlichen Poten­tial; Gesellschaften, die das Sein und Teilen fördern, wurzeln in dem anderen. (…)

Eine Gesellschaft, die auf den Prinzip­i­en Erwerb-Prof­it-Eigen­tum basiert, bringt einen am Haben ori­en­tierten Gesellschafts-Charak­ter her­vor, und sobald das vorherrschende Ver­hal­tens­muster etabliert ist, will nie­mand ein Außen­seit­er oder gar ein Aus­gestoßen­er sein. Um diesem Risiko zu ent­ge­hen, passt sich jed­er der Mehrheit an, die durch nichts anderes miteinan­der ver­bun­den ist als durch ihren gegen­seit­i­gen Antag­o­nis­mus.

Wie zutr­e­f­fend ist seine Beobach­tung, dass wir durch unser gesellschaftliche Umge­bung mehr kon­di­tion­iert sind, als uns lieb ist? Die Antwort kann nur dif­feren­ziert aus­fall­en: Je weniger wir mit unserem tiefen, wahren Selb­st ver­bun­den sind, desto stärk­er ist der Ein­fluss dieser Umge­bung. Und das gilt natür­lich auch umgekehrt.

Ein ein­drück­lich­es Beispiel lieferte uns ger­ade der im Rah­men des Gen­fan­gene­naus­tausches freige­lassene rus­sis­che Oppo­si­tion­spoli­tik­er Wladimir Kara-Murza. Auf die Frage, woher er die Stärke des Wider­stands im Gefäng­nis bezo­gen habe, sagte er: Ich bin Christ, mit dem inneren Chris­tus ver­bun­den. Welch ein Gegen­satz zu den bei­den Dik­ta­toren Putin und Lukaschenko, die in einem Kloster schein­heilig ihr “Chris­ten­tum” zele­bri­erten …

Fort­set­zung am kom­menden Fre­itag, den 16. August.

 

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