Im näch­sten Kapi­tel des Buch­es “Sein oder Haben” von Erich Fromm geht’s defin­i­tiv ans Eingemachte. Sein Titel “Sein als Wirk­lichkeit” tönt harm­los — vor­erst — , aber schon die ersten Zeilen machen klar, dass das, was nun fol­gt, soweit von Harm­losigkeit ent­fer­nt ist wie nur möglich:
Ich habe bish­er die Bedeu­tung des Seins beschrieben, indem ich es dem Haben gegenüber­stellte. Doch ein zweit­er, eben­so wichtiger Sin­nge­halt des Seins wird deut­lich, wenn man es mit dem Schein ver­gle­icht.
Wenn ich gütig erscheine, meine Güte aber nur eine Maske ist, hin­ter der ich meine aus­beu­ter­ischen Absicht­en ver­berge; wenn ich mutig erscheine, in Wirk­lichkeit aber bloß äußerst eit­el oder vielle­icht gar lebens­müde bin; wenn ich mein Land zu lieben scheine, de fac­to aber meine selb­st­süchti­gen Inter­essen fördere – dann ste­ht der äußere Anschein, das heißt mein äußeres Ver­hal­ten, in krassem Wider­spruch zu den tat­säch­lichen Kräften, die mich motivieren.

Mein Ver­hal­ten entspricht nicht meinem Charak­ter. Meine Charak­ter­struk­tur, die wirk­liche Moti­va­tion meines Ver­hal­tens, stellt mein wahres Sein dar. Mein Ver­hal­ten kann teil­weise mein Sein reflek­tieren, aber gewöhn­lich ist es eine Maske, die ich trage, weil sie zur Erre­ichung mein­er Ziele nüt­zlich ist. Die behav­ior­is­tis­che Ver­hal­tenswis­senschaft beschäftigt sich mit dieser Maske, als wäre sie eine ver­lässliche wis­senschaftliche Gegeben­heit; die wahre Ein­sicht konzen­tri­ert sich dage­gen auf die innere Real­ität, die gewöhn­lich wed­er bewusst noch direkt beobacht­bar ist. Diese Auf­fas­sung des Seins als „Demask­ierung“, wie Eck­hart es nen­nt, spielt eine zen­trale Rolle im Denken von Spin­oza und Marx.

Was Fromm hier aufzeigt, find­et sich auch bei anderen Psy­cho­an­a­lytik­ern, ein­fach in deren eigen­er Ter­mi­nolo­gie aus­ge­drückt:
C.G. Jung sprach vom “Schat­ten”, den wir alle in uns tra­gen, und den wir gerne nach aussen und auf andere pro­jizieren, um ihn nicht in uns zur Ken­nt­nis nehmen zu müssen.
Wil­helm Reich sprach von der dun­klen Zwis­chen­schicht per­vers­er Impulse, die wir unter­drück­en müssen, woraus die Maske resul­tiert, mit der wir durch die Welt gehen.

Sowohl Jung wie Reich ver­wiesen auf die emi­nent wichtige Auf­gabe, diesen “Schat­ten”, diese dun­kle Zwis­chen­schicht Schritt um Schritt ins Bewusst­sein zu brin­gen. Es ist der Kampf mit dem “inneren Drachen”. Falls wir den Mut dafür auf­brin­gen, sind die Früchte dieses Kampfes mehr Lebendigkeit, mehr Wach­heit, mehr Lebens­freude und ‑mut. Falls wir es nicht tun, verz­er­ren die diversen inneren “dun­klen Brillen” die Sicht auf das, was wirk­lich ist. Es entste­hen verz­er­rte Wahrnehmungen der Wirk­lichkeit:

Unsere bewussten Moti­va­tio­nen, Ideen und Überzeu­gun­gen sind eine Mis­chung aus falschen Infor­ma­tio­nen, Vorurteilen, irra­tionalen Lei­den­schaften, Ratio­nal­isierun­gen und Vor­ein­genom­men­heit, in der einige Brock­en Wahrheit schwim­men, die uns die (freilich falsche) Gewis­sheit geben, dass die ganze Mis­chung real und wahr sei. Unser Denkprozess ist bestrebt, diesen ganzen Pfuhl voller Illu­sio­nen nach den Geset­zen der Logik und Plau­si­bil­ität zu organ­isieren. 

Von dieser Bewusst­sein­sebene nehmen wir an, dass sie die Real­ität reflek­tiere; sie ist die Land­karte, nach der wir uns im Leben ori­en­tieren. Diese falsche Land­karte wird nicht ver­drängt. Was ver­drängt wird, ist das Wis­sen von der Wirk­lichkeit, das Wis­sen von dem, was wahr ist. Wenn wir also fra­gen: Was ist unbe­wusst?, muss die Antwort laut­en: nicht nur die irra­tionalen Lei­den­schaften, son­dern fast unser ganzes Wis­sen von der Wirk­lichkeit.

Das Unbe­wusste ist let­ztlich von der Gesellschaft in zweifach­er Weise deter­miniert: Sie schafft die irra­tionalen Lei­den­schaften und ver­sorgt gle­ichzeit­ig ihre Mit­glieder mit ver­schiede­nen Fik­tio­nen und macht dadurch die Wahrheit zum Gefan­genen der ange­blichen Ratio­nal­ität.

Was diese Tat­sache für Poli­tik und Gesellschaft bedeutet, kön­nen wir heute live — nicht nur, aber hier beson­ders augen­fäl­lig — in den USA und in Rus­s­land beobacht­en.

Fort­set­zung am kom­menden Fre­itag, den 12. Juli

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