Nachdem Erich Fromm eine lange Liste vorgelegt hat, welche innere seelische Errungenschaften und Haltungen “den neuen Menschen” ausmachen, geht er im letzten Kapitel des Buchs “Haben oder Sein” auf die Wesensmerkmale der daraus resultierenden “neuen Gesellschaft” ein.
Er beginnt — bildlich gesprochen — mit einer “kalten Dusche”:
Die erste Voraussetzung für den Aufbau einer neuen Gesellschaft ist, sich die nahezu unüberwindbaren Schwierigkeiten bewusst zu machen, die einem solchen Versuch im Wege stehen. Das vage Wissen um diese Hindernisse dürfte einer der Hauptgründe sein, warum so wenige Anstrengungen unternommen werden, um den nötigen Wandel herbeizuführen. „Warum nach dem Unmöglichen streben?“ mögen viele denken. „Tun wir lieber weiterhin so, als werde uns der Kurs, den wir steuern, an den Ort der Sicherheit und des Glücks geleiten, der auf unseren Karten verzeichnet ist.“ Wer unbewusst verzweifelt, nach außen aber eine Maske von Optimismus zur Schau trägt, handelt nicht gerade weise. Wer aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, kann nur dann Erfolg haben, wenn er realistisch denkt, alle Illusionen über Bord wirft und den Problemen ins Auge sieht. Diese Nüchternheit unterscheidet die wachen von den träumenden „Utopisten“.
“Nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten”, “vages Wissen um … Hindernisse”: Fromm macht von Anfang an klar, dass der Weg zu dieser neuen Gesellschaft lang und steinig sein wird und nur von “wachen Utopisten” in Angriff genommen werden kann. Und er stellt auch gleich diese Schwierigkeiten und Hindernisse vor, die gelöst und überwunden werden müssen. Diese Punkte sind so zentral, dass sie hier ebenfalls integral vorgestellt werden sollen:
● Die gesamtwirtschaftliche Rahmenplanung müsste – unter Verzicht auf die weitgehend zur Fiktion gewordene „freie Marktwirtschaft“ – mit einem hohen Maß an Dezentralisierung verbunden werden.
● Das Ziel unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums müsste aufgegeben bzw. durch selektives Wachstum ersetzt werden, ohne das Risiko einer wirtschaftlichen Katastrophe einzugehen.
● Es gälte, entsprechende Arbeitsbedingungen und eine völlig andere Einstellung zur Arbeit zu schaffen, sodass nicht mehr der materielle Gewinn den Ausschlag gibt, sondern andere psychische Befriedigungen als Motivation wirksam werden können. [II-394]
● Der wissenschaftliche Fortschritt müsste gefördert und gleichzeitig sichergestellt werden, dass seine praktische Anwendung nicht zur Gefahr für die Menschheit wird.
● Es müssten Bedingungen geschaffen werden, die es dem Menschen ermöglichen, Wohl-Sein und Freude zu empfinden, und die ihn von der Sucht nach Maximierung des „Vergnügens“ befreien.
● Die Existenzgrundlage des Einzelnen wäre zu sichern, ohne ihn von der Bürokratie abhängig zu machen.
● Die Möglichkeit zur „individuellen Initiative“ ist vom wirtschaftlichen Bereich (wo sie ohnehin kaum noch existiert) in die übrigen Lebensbereiche zu verlagern.
Fortsetzung am kommenden Freitag, den 24. Januar
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz / Christentum und Gnosis / Helvetia — quo vadis? / Aldous Huxley / Dle WW und die Katholische Kirche / Trump Dämmerung