Erich Fromm hält fest, dass die grossen spir­ituellen Meis­ter der Men­schheit immer unter­schieden zwis­chen den Bedürfnis­sen, deren Befriedi­gung lediglich zu momen­tanem Vergnü­gen führt, und jenen, die in der men­schlichen Natur wurzeln und deren Erfül­lung seel­is­ches Wach­s­tum fördert. Einen entschei­den­den Umschwung hin zur Entwick­lung immer grösser­er sub­jek­tiv­er Wun­scher­fül­lung sah er in der Entste­hung des Bürg­er­tums, und er erläutert das am Wort “Prof­it”:
Die The­o­rie, dass das Ziel des Lebens die Erfül­lung eines jeden men­schlichen Wun­sches sei, wurde … erst­mals wieder von den Philosophen des 17. und 18. Jahrhun­derts aus­ge­sprochen. Diese Auf­fas­sung kon­nte leicht aufkom­men, als das Wort „Prof­it“ aufhörte „Gewinn für die Seele“ zu bedeuten (wie in der Bibel und auch noch bei Spin­oza) und stattdessen materiellen, finanziellen Gewinn beze­ich­nete.
Dies geschah in jen­er Epoche, als das Bürg­er­tum nicht nur seine poli­tis­chen Fes­seln abwarf, son­dern auch alle Bande der Liebe und Sol­i­dar­ität, und zu glauben begann, wer nur für sich selb­st sei, sei mehr er selb­st, nicht weniger. Für Hobbes ist Glück das ständi­ge Weit­er­schre­it­en von ein­er Begierde (cupid­i­tas) zur näch­sten; La Met­trie emp­fiehlt sog­ar Dro­gen, da diese wenig­stens die Illu­sion von Glück ver­mit­tel­ten; für de Sade ist die Befriedi­gung grausamer Impulse allein schon deshalb legit­im, weil sie vorhan­den sind und nach Befriedi­gung ver­lan­gen. Dies waren Denker, die im Zeital­ter des endgülti­gen Sieges der bürg­er­lichen Klasse lebten. Was einst die unphilosophis­che Prax­is der Aris­tokratie gewe­sen war, wurde nun zur Prax­is und The­o­rie der Bour­geoisie.

Und dann weist er auf den Wider­spruch hin, der unser­er mod­er­nen indus­tri­al­isierten Gesellschaft inhärent ist:
Die Vorstel­lung gren­zen­losen Vergnü­gens ste­ht in merk­würdi­gem Gegen­satz zu dem Ide­al diszi­plin­iert­er Arbeit, eben­so wie die Annahme eines zwang­haften Arbeit­sethos dem Ide­al völ­liger Faul­heit in den freien Stun­den des Tages und im Urlaub wider­spricht. Fließband und bürokratis­che Rou­tine auf der einen Seite, Fernse­hen, Auto und Sex auf der anderen, ermöglichen diese wider­spruchsvolle Kom­bi­na­tion. Zwang­haftes Arbeit­en allein würde die Men­schen eben­so ver­rückt machen wie absolutes Nicht­stun. Erst durch die Kom­bi­na­tion bei­der wird das Leben erträglich. Außer­dem entsprechen die bei­den wider­sprüch­lichen Hal­tun­gen ein­er ökonomis­chen Notwendigkeit: Der Kap­i­tal­is­mus des 20. Jahrhun­derts set­zt eben­so den max­i­malen Kon­sum der pro­duzierten Güter und Dien­stleis­tun­gen wie die zur Rou­tine gewor­dene Tea­mar­beit voraus. (…)
Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglück­lich­er Men­schen: ein­sam, von Äng­sten gequält, deprim­iert, destruk­tiv, abhängig – jene Men­schen, die froh sind, wenn es ihnen gelingt, jene Zeit „totzuschla­gen“, die sie ständig einzus­paren ver­suchen.

Fromm kam in den 70-er Jahren zum diesem Schluss. Ob seine Analyse inzwis­chen obso­let gewor­den ist? Wohl kaum: “Zwei von fünf Men­schen in der Schweiz stark psy­chisch belastet”, hiess es 2022 in ein­er Sendung von SRF News, und: “Fast die Hälfte der Schweiz­er Bevölkerung ist gemäss ein­er Umfrage psy­chisch angeschla­gen.”

Der Psy­cho­an­a­lytik­er und Philosoph sieht die kap­i­tal­is­tis­che Gesellschaft von Anfang an mit einem Geburts­fehler behaftet:
Die … psy­chol­o­gis­che Prämisse des indus­triellen Zeital­ters, dass das Ausleben des indi­vidu­ellen Ego­is­mus Har­monie, Friede und den all­ge­meinen Wohl­stand fördere, ist vom the­o­retis­chen Ansatz her… irrig (…)
Ego­is­mus ist nicht bloß ein Aspekt meines Ver­hal­tens, son­dern meines Charak­ters. Er bedeutet, dass ich alles für mich haben möchte; dass nicht Teilen, son­dern Besitzen mir Vergnü­gen bere­it­et; dass ich immer habgieriger wer­den muss, denn wenn Haben mein Ziel ist, bin ich umso mehr, je mehr ich habe; dass ich allen anderen gegenüber feind­selig bin – meinen Kun­den gegenüber, die ich betrü­gen, meinen Konkur­renten, die ich ruinieren, meinen Arbeit­ern, die ich aus­beuten möchte. Ich kann nie zufrieden sein, denn meine Wün­sche sind end­los. Ich muss jene benei­den, die mehr haben als ich, und mich vor jenen fürcht­en, die weniger haben. Aber alle diese Gefüh­le muss ich ver­drän­gen, um (vor anderen und vor mir selb­st) der lächel­nde, vernün­ftige, ehrliche, fre­undliche Men­sch zu sein, als der sich jed­er­mann aus­gibt.

Wäre der Kom­mu­nis­mus als Idee — nicht in sein­er real-sozial­is­tis­chen Erschei­n­ungs­form — eine val­able Alter­na­tive gewe­sen? Fromm verneint vehe­ment:
Die Behaup­tung der Kom­mu­nis­ten, ihr Sys­tem werde den Klassenkampf durch Abschaf­fung der Klassen been­den, ist eine Fik­tion, da auch ihr Sys­tem auf dem Prinzip des unbe­gren­zten Kon­sums als Leben­sziel basiert. Solange jed­er mehr haben will, müssen sich Klassen her­aus­bilden, muss es Klassenkampf und, glob­al gese­hen, inter­na­tionale Kriege geben. Habgi­er und Friede schließen einan­der aus.

Aus sein­er Sicht war der entschei­dende wirtschaftliche “Sün­den­fall” der Mod­erne die Abkop­pelung des Wirtschaft­slebens von der Ethik:
In der mit­te­lal­ter­lichen Gesellschaft sowie in vie­len anderen hoch entwick­el­ten und auch in prim­i­tiv­en Gesellschaften wurde das ökonomis­che Ver­hal­ten durch ethis­che Nor­men bes­timmt. (…)
Der Kap­i­tal­is­mus des 18. Jahrhun­derts machte schrit­tweise einen radikalen Wan­del durch: Das wirtschaftliche Ver­hal­ten wurde von der Ethik und den men­schlichen Werten abge­tren­nt. Der Wirtschaftsmech­a­nis­mus wurde als autonomes Ganzes ange­se­hen, das unab­hängig von den men­schlichen Bedürfnis­sen und dem men­schlichen Willen ist – ein Sys­tem, das sich aus eigen­er Kraft und nach eige­nen Geset­zen in Gang hält. Das Elend der Arbeit­er sowie der Ruin ein­er stetig zunehmenden Zahl kleiner­er Unternehmen infolge des unaufhalt­samen Wach­s­tums der Konz­erne gal­ten als wirtschaftliche Notwendigkeit, die man vielle­icht bedauern kon­nte, jedoch akzep­tieren musste wie die Auswirkun­gen eines Naturge­set­zes.

Die Entwick­lung dieses Wirtschaftssys­tems wurde nicht mehr durch die Frage: Was ist gut für den Men­schen? bes­timmt, son­dern durch die Frage: Was ist gut für das Wach­s­tum des Sys­tems? Die Schärfe dieses Kon­flik­ts ver­suchte man durch die These zu ver­schleiern, dass alles, was dem Wach­s­tum des Sys­tems (oder auch nur eines einzi­gen Konz­erns) diene, auch das Wohl der Men­schen fördere. Diese These wurde durch eine Hil­f­skon­struk­tion abgestützt, wonach genau jene men­schlichen Qual­itäten, die das Sys­tem benötigte – Ego­is­mus, Selb­st­sucht und Habgi­er – dem Men­schen ange­boren seien; sie seien somit nicht dem Sys­tem, son­dern der men­schlichen Natur anzu­las­ten. Gesellschaften, in denen Ego­is­mus, Selb­st­sucht und Habgi­er nicht existierten, wur­den als „prim­i­tiv“, ihre Mit­glieder als „naiv“ abqual­i­fiziert. Man weigerte sich anzuerken­nen, dass diese Charak­terzüge ger­ade nicht natür­liche Triebe sind, die zur Bil­dung der Indus­triege­sellschaft führten, son­dern das Pro­dukt gesellschaftlich­er Bedin­gun­gen.

Fort­set­zung am kom­menden Fre­itag, den 8. März

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