Wie reagiert ein Mensch, der sich über viele Jahre hinweg mit Haut und Haar einem Ideal verschrieben hat, anfänglich auf Hinweise und Ereignisse, die mit diesem Ideal nicht vereinbar sind, ja ihm sogar diametral gegenüberstehen? -
Richtig! Er sieht darüber hinweg, stellt sich blind, beschönigt oder leugnet sie sogar. Erst wenn sie nicht mehr zu leugnen sind, weil für jedermann offen zutage liegend, setzt — vielleicht — ein überaus schmerzhafter Erkenntnisprozess ein, der alles zerbrechen lässt, was dem Leben Sinn gegeben hat und einem lieb und teuer war.
So ging es Manès Sperber, als er angesichts der diabolischen, von Stalin initiierten Moskauer Schauprozesse 1936–38 definitiv erkennen musste, dass die moskauhörige Kommunistische Partei sich in das Gegenteil verwandelt hatte, wofür sie zu Beginn zu stehen versprach: die Errichtung einer freien,
sozial gerechten Gesellschaft. Keiner hat diese Tragödie eindrücklicher geschildert als George Orwell mit seiner Erzählung “Die Farm der Tiere”. Der Trickfilm dazu auf Youtube ist immer noch absolut sehenswert.
Der jüdische Sperber hatte schon früh die dunklen Wolken des Nationalsozialismus aufsteigen sehen und seine ganze Hoffnung in den Widerstand durch die Kommunisten Deutschlands gesetzt. Doch die abstruse von Stalin befohlene Parteipolitik, die nicht in Hitler, sondern in den Sozialdemokraten den zu bekämpfenden Feind sah, und die auf ebenso abstrusen Lügen aufgebauten Säuberungen liessen sie schliesslich zerbrechen.
Im Opus Magnum, der Romantrilogie “Wie eine Träne im Ozean” verarbeitete er seine schmerzhaften Erkenntnisse auf vielfältige Weise. Eine der eindrücklichsten Szenen ist das Verhör der Romanfigur des beliebten und berühmten deutschen Arbeiterführers Sönnecke, der nach Moskau beordert worden war, um dort angeklagt zu werden. Es zeigt die ganze Pervertierung des kommunistischen Systems so klar auf, dass hier ein längerer Auszug erscheinen soll.
Schon seit Wochen hat man versucht, mit pausenlosen Verhören Sönnecke zum Unterschreiben eines Dokuments mit seinen “Geständnissen” zu bringen, ohne Erfolg.
Anderntags übernahm ein anderer Mann die Leitung des Verfahrens. Er war klug und hatte augenscheinlich politische Erfahrung.
»Sprechen wir ernst, Genosse Sönnecke. All diese Geschichten von wegen Agent der Nazis sind natürlich Blödsinn, überdies langweilig. Obschon — wenn wir wollen, dann werden einige tausend Zeitungen schreiben, daß Sie schon im Leib Ihrer Mutter ein Agent des noch ungeborenen Hitler und des Mikado gewesen sind. Alle Zellen aller kommunistischen Parteien der Welt werden einstimmig Resolutionen fassen und Sie verdammen, am heftigsten wird die Sprache der deutschen Resolutionen sein. Und sympathisierende Intellektuelle — Juristen, Physiker, Philosophen, Psychologen, Ärzte, Schriftsteller, zwei, drei Geistliehe — werden nachweisen, daß Sie aus juristischen, physikalisehen, philosophischen Gründen und so weiter ein Feind der Menschheit gewesen sein müssen.
Ich brauche nur auf den Knopf zu drücken, dann wird man einige deutsche Arbeiter hereinführen, die werden schwören, daß Sie sie dazu überredet haben, an einem Attentat gegen — Sie wissen schon wen — teilzunehmen. Und das sind Leute, die wissen, wer Herbert Sönnecke ist. Aber wenn jemand gezwungen ist, alles Mitleid, dessen er fähig ist, für sich selbst zu verbrauchen, kann er jedes Verbrechen begehen, von dem er sich Rettung verspricht. Nehmen Sie zum Beispiel Ihre Tochter Klara, hübsch, gescheit, ein bißchen zu ehrgeizig, will Filmschauspielerin werden, sollte einen bekannten Filmregisseur heiraten — da passiert die Sache mit Ihnen. Was wollen Sie, jeder muß an sich selber denken, also aus dem Zimmer hat man sie hinausgesetzt, auch aus der Schule, der Filmregisseur hat sich plötzlich daran erinnert, daß er einen Film über sozialistische Baumwolle in Mittelasien drehen muß — niemand kennt mehr die hübsche, kluge Klara Gerbertowna, ganz allein ist sie. In unserem Land ganz allein zu sein, das war schon zu Dostojewskis Zeiten sehr gefährlich. Um es kurz zu machen: Klara Gerbertowna ist bereit, auszusagen, daß Sie ihr erklärt haben, es wäre besser, Hitler säße im Kreml statt Stalin. Natürlich haben Sie so was nie gesagt, das weiß ich.
Also sprechen wir ernst. Ich weiß, was Sie sind, und Sie wissen, daß ich es weiß. Sie sind ein alter Revolutionär und eben deswegen ein Gegner. Hätten die Nazis Sie erwischt und geköpft, wir hätten eine mittelgroße Stadt, zwei ganz große Sowchosen, drei Metallfabriken und zumindest eine Schule nach Ihnen benannt, zu schweigen von den insgesamt etwa 250 Straßen, die man auf Ihren Namen getauft hätte. Also dialektisch besteht die Anklage wegen Ihrer Verbindung zu Klönitz zu Recht: ohne ihn wären Sie schon 1933 aufgeflogen, und heute gäbe es ein Sönnecke-Sanatorium des sowjetischen Metalltrusts am Schwarzen Meer. So aber sind Sie ein lebender Gegner, wir machen Sie unschädlich, das ist logisch, wir töten Sie oder schicken Sie nach dem Nordosten (ins Straflager), erst einmal für 20 Jahre. Sie sind nicht gezwungen, dort die ganzen zwanzig Jahre zu leben, Sie können schon nach 20 Monaten sterben, das ist nirgendwo auf der Welt so leicht wie dort, glauben Sie es mir, ich komme von dort.
Also Prozeß, Sie geben zu, ein Gegner zu sein, aber natürlich nicht so abstrakt, sondern hübsch konkret. Nach dem System der Kettenidentifikation und dramatisiert. Also nicht erklären: Ich bin ein Gegner Stalins, sondern gleich konkret: Ich wollte Stalin umbringen. Nicht: Ich halte seine Politik für schlecht, verderblich, konterrevolutionär, sondern direkt, konkret: Ich habe mich mit dem Abschaum der Erde verbunden, um das Sowjetregime zu stürzen usw.… Kein Mensch fragt Sie, warum Sie, ein alter Revolutionär, ein Gegner sind, denn es ist dann schon klar, daß Sie eben nie ein Revolutionär gewesen sind usw. Ist bisher alles klar, Gerbert Karlowitsch?«
»Ja, durchaus, aber ich spiele nicht mit. Ich werde im Prozeß sagen, warum ich gegen Stalin bin, warum ich glaube, daß ihr euch seit 1927 trotz Planwirtschaft, trotz Kollektivisierung mit jedem Schritt von der Revolution, vom Sozialismus entfernt habt und zu einer asiatischen Tyrannei geworden seid, und was…« »Warten Sie, warten Sie, Sie weichen vom Thema ab. Seit 1927 haben Sie also die falsche Politik durchschaut und sie dennoch widerspruchslos angewandt, ja oder nein?« — »Ja.« »Und zwar bis zum Tag vor Ihrer Verhaftung, ja oder nein?« »Ja.« »Sie haben Leute in den Kampf, ins Zuchthaus, ins Lager oder in den Tod geschickt, in Anwendung dieser Politik, ja oder nein?« — »Ja.« »Und jetzt ist es im Sinne dieser gleichen Politik notwendig, daß wieder ein Genosse stirbt, zufällig sind Sie dieser Genosse, und plötzlich finden Sie, das geht nicht mehr. Tausende Genossen sind gestorben, macht nichts. Aber das Leben und die Ehre des Genossen Sönnecke ist wichtiger als alles andere, darum finden Sie jetzt, daß das so nicht weitergeht.« »Unsinn! Wer unter meiner Führung in den Kampf gegangen ist, hat gewußt, daß niemand, auch der Feind nicht, bestreiten wird, daß er für die Sache gekämpft hat, die er gewählt hat. Als Freiheitskämpfer sind sie ins Zuchthaus, ins Lager, in den Tod gegangen. Aber ihr wollt, daß man unter falschem Titel, geschändet als Konterrevolutionär sterben soll.«
»Schwach, sehr schwaches Argument, weil formallogisch. Überdies weichen Sie schon wieder vom Thema ab. Die Partei macht Fehler, viele, schwere Fehler. Die Folgen stellen sich ein, man kann sie nicht verbergen, weil man Hunger, Kälte, Mangel an Saatgut, an Zugvieh, an Traktoren, weil man Niederlagen nicht verbergen kann. Darf die Partei Fehler machen, darf sie mit dem Schmutz der Niederlagen bedeckt werden? Nein, die Partei muß immer recht haben, sie ist alles: die Dreifaltigkeit, die Kirche, die Heiligen und die Wunder. Das alles muß sie sein, sonst sind wir verloren. Daher muß sie sauber sein, leuchten in der Finsternis, wie es im Evangelium steht. Zum Reinigen braucht man reines Wasser, gute Seife — Sönneckes. Nachher ist das Wasser schmutzig, aber die Partei ist sauber. Es ist völlig belanglos, unter welchem Titel man für sie stirbt.« »Das haben Sie sich dort ausgedacht — im Nordosten? Schnell, bevor die 20 Monate um waren?« »Ja, das ist dialektisch.«
»Nicht dumm, gar nicht dumm. Also diejenigen, die die Fehler im Namen der Partei gemacht haben, haben die Schuld auf sich zu nehmen, als Konterrevolutionäre zu krepieren, damit die Partei sauber bleibt — streng, aber gerecht. Ich habe natürlich auch Fehler gemacht, ich habe zu sterben. Aber dann alles in der richtigen Reihenfolge! Fangen wir also mit Ihrem Chef an. Überall hängen seine Bilder, die Kinder im allerletzten Dorf wissen, daß alles nur auf seinen Befehl geschieht. Es würde die Partei, die Internationale von allen Verantwortungen entlasten, wenn aus allen Lautsprechern seine Stimme verkündete, daß er ein Agent der Feinde gewesen ist und alles, diese Degradierung der Revolution, die Ermordung der Freiheit, die Vernichtung der Partei im Auftrag der Konterrevolution ausgeführt, die alten, verdienten Revolutionäre ausgerottet hat und …« »Sie sind verrückt, Sie beweisen jetzt, daß Sie nicht ein Gegner, sondern ein abgefeimter Feind …«
»Warum haben Sie solche Angst? Wenn Sie mich nicht herumkriegen, wird man Sie wieder nach dem Nordosten expedieren was macht das, erklären Sie es sich dialektisch.« Der Mann, ganz bleich im Gesicht, sprang auf und brüllte: »Sie sind der böseste Mensch, dem ich je begegnet bin«, er holte Atem und fügte dann leise, fast flüsternd hinzu, »Sie gehen darauf aus, jeden zu vernichten, mit dem Sie es hier zu tun haben. Warum tun Sie das?«
»Antworten Sie zuerst: Wird Ihnen was Unangenehmes passieren, wenn Sie mich nicht kleinkriegen?« »Das gehört nicht zum Thema, ist überdies unwichtig.« »Setzen Sie sich wieder. Die anderen, das waren dreckige Polizisten. Sie sind auch ein Polizist, aber Sie hätten ein Genosse werden können — in freier Wahl, wenn es das bei euch gäbe, hätten Sie vielleicht einige tausend Stimmen gewinnen können, das ist nicht schlecht. Darum werde ich Ihnen antworten.
Ich bin über 50 Jahre alt, wenn ich in sieben Wochen noch lebe, werde ich sogar 51 geworden sein. Mit 18 Jahren bin ich in die Bewegung gekommen. Als ich 22 war, da haben einige tausend Metallarbeiter beschlossen, daß ich ihr Mann sein könnte, sie haben mich gewählt. Seither bin ich immer gewählt worden — in freien Wahlen, verstehen Sie? —, am Schluß von Hunderttausenden der besten deutschen Arbeiter. Und wie die mich gewählt haben, da haben sie gedacht: Sönnecke, der vertritt unsere Interessen, der steht für uns ein, der wird immer in der Offensive sein, gegen die Arbeitgeber, gegen die Staatsgewalt, gegen Polizisten, Untersuchungsrichter, Staatsanwälte, Richter. Niemand hat die gezwungen, einen solchen Beruf zu wählen, es ist also uninteressant, ob sie sonst anständige Kerle sind oder nicht. Sie sind für mich immer die Feinde gewesen, denn ich habe die Arbeiter zu vertreten gehabt. Dreißig Jahre habe ich das nun praktiziert jetzt, verstehen Sie?« »Nein, absolut nicht, das alles gilt hier nicht, das ist kein bürgerlicher Staat.« »In Frankreich, da steht es an den Portalen der Gefängnisse: >Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.< Der Thiers, der die Communards hat niedermetzeln lassen, dem seine Hymne war die Marseillaise, ein revolutionäres Lied. Seit das Christentum gesiegt hat, hat es nur ein einziges Jahr ohne Krieg gegeben, seither bringen die Leute einander aus Nächstenliebe um, mit von der Kirche gesegneten Kanonen.
Ihr habt den Sozialismus verwirklicht, sagt ihr, seither haben die Arbeiter nicht einmal mehr wirkliche Gewerkschaften, keine Koalitionsfreiheit, keine Bewegungsfreiheit, aber die Polizei, vor der sie nicht weniger Angst haben als vor der des Zaren, muß ihnen lieb sein, weil sie, sagt ihr, das Schwert der Revolution ist. Mich werdet ihr nicht herumkriegen, ihr seid nicht unsere Polizei, wir haben keine Polizei, für mich seid ihr der gleiche Feind, den ich kenne, seitdem ich in der Bewegung bin. Ich bin nicht euer Komplize, ihr könnt mich nicht einmal anklagen, nicht richten, ihr werdet mich ermorden, so wie sie Rosa Luxemburg ermordet haben.« »Genug, mehr als genug! Dieses reformistische Geschwätz wird Ihnen vergehen, Sie werden nachgeben, Sie werden am Ende sogar zugeben, Ihre eigene Mutter umgebracht zu haben, wenn wir es nur wollen werden.« »Wir — wer wir? Sie nicht, Sie werden im Nordosten verfaulen.«
Die Männer wechselten, die Methoden, Sönnecke begann, körperlich zu verfallen. Auch wenn man ihm noch Gelegenheit dazu gegeben hätte zu diskutieren, Zeugen in die Enge zu treiben, er hätte es nicht mehr gekonnt. Er war verstummt, keine Folter vermochte, ihn zum Sprechen zu bringen.
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 31. Mai
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz / Christentum und Gnosis / Helvetia — quo vadis? / Aldous Huxley / Dle WW und die Katholische Kirche / Trump Dämmerung / Manès Sperber /Reinkarnation