Mit “Das ostjüdische Schtetl — ein leuchtender Kristall” betitelt Rudolf Isler das erste Kapitel seiner Biographie über Manès Sperber. Solche “Schtetlech” waren geprägt von Armut:
Die Bewohner von Zablotow — vorwiegend Handwerker und Händler — lebten eng zusammengepfercht und zumeist in grösster Armut; sie war im allgemeinen so bedrängend, dass für die meisten jeden Tag die Fragen zuvorderst waren, wie sie das Nötigste zum Leben beschaffen konnten.
Aber sie waren auch geprägt von einer das ganze Leben durchdringenden tiefen Spiritualität:
So gross die Armut auch war …, so wenig war sie eine Armseligkeit, denn das alles durchdringende geistliche und geistige Leben des Schtetls bildete ein Gegengewicht zur materiellen Armut; es erzeugte ein Bewusstsein, welches die Armut erträglicher erscheinen liess. … Es galt, Glauben und Handeln in Übereinstimmung zu bringen, und eine Regel des Rabbi Hillel zu befolgen, das heisst: Niemandem etwas anzutun, was man selbst nicht erleiden möchte. Noch vor dem Namen seiner Familie konnte Sperber “Jeruschalajim” sagen …
Sperbers Urgrossvater eilte manchmal auf einen Hügel in der Nähe und hielt Ausschau nach dem Messias, der jeden Augenblick kommen konnte.
Ein dritter Aspekt dieser chassidischen Gemeinschaft war eine tief verankerte Tradition von Bildung und Diskussion, von immer aufs Neue geübter Interpretation von Thora, Talmud und heiligen Schriften, von Ringen nach dem Sinn des Lebens und nach dem Verstehen der Welt. Das ganze Schtetl erscheint von dieser Atmosphäre geprägt: Studierstuben, gebildete Männer, die in der Diskussion ihre Argumente mit ausgesuchten Zitaten unterlegen, überlieferte, weise, scharfsinnige Aussprüche von Wunderrabbis …
Für die einzelnen Familien bedeutete das, dass das Geld, so arm sie auch sein mochten, zumindest für eines reichen musste, nämlich für den Lohn des Lehrers. Denn mit drei Jahren mussten die Kinder, natürlich nur die Buben und nicht die Mädchen, in den Cheder geschickt werden, in die Schule, in der man hebräisch lesen, beten und auch die Bibel übersetzen lernte.
(sämtliche Auszüge aus: Rudolf Isler, Manès Sperber — Zeuge des 20. Jahrhunderts — eine Lebensgeschichte, Sauerländer-Verlag 2004)
Roman Vishniac hat in seinem Buch “Verschwundene Welt” diesen Schtetlech mit seinen Fotos noch kurz vor der endgültigen Zerstörung ein eindrückliches Denkmal gesetzt:
Mitte der 1930er Jahre verschlimmerte sich die Situation der Juden in Osteuropa beträchtlich. Das Berliner Büro des American Jewish Joint Distribution Committee bat Vishniac, die osteuropäischen Ghettos und Schtetlach aufzusuchen, um dort die Armut und das Elend bildlich festzuhalten. Von 1935 bis ca. 1939 reiste Vishniac häufig von Berlin nach Osteuropa, um die Kultur und das Leben der orthodoxen Juden zu dokumentieren. (Wikipedia)
In den Schtetlech gab es auch christliche Nachbarn. Aber aufgrund der immer wiederkehrenden Verfolgungen durch Christen, unter der jüdische Gemeinschaften über Jahrhunderte hinweg gelitten hatten, war der Graben tief. Wie tief, schildert Manès Sperber im ersten Band seiner Autobiographie, “Die Wasserträger Gottes”, mit einem Erlebnis in seiner Kindheit:
Als kleiner Junge spielte er ab und zu am Gartenzaun verstohlen mit Jadzia, einem Mädchen der polnischen Nachbarsfamilie. Eines Tages führte die polnische Haushalthilfe der Sperbers, die finanziell etwas besser gestellt waren, während der Abwesenheit seiner Eltern den beklommenen Manès heimlich in das Haus der christlichen Nachbarn. Dort erblickte er seine kleine Spielgefährtin,
… die unverkennbar und doch ganz anders war, als ich sie kannte. Sie lag von Kopf bis Fuss weiss gekleidet, auf einem breiten Bett, über den gefalteten Händen eine lange Kette mit einem goldenen Kreuz, …
Schwarz gekleidete Frauen … knieten zu beiden Seiten des Betts. Ich starrte bald auf sie und ihre kaum hörbar murmelnden Lippen, bald auf Jadzia, auf ihre im Kerzenlicht glänzenden Locken und auf ihre gefalteten, gefesselten Hände. Ich spürte den Blick ihrer Mutter auf meinem Gesicht, zuerst wie eine sachte und dann wie eine energische Berührung. Ich wusste nicht, was sie wollte, und drehte mich zu Jelena um, die hinter mir stand. Sie nickte mir zu, dann kniete sie nieder und zog mich mit sich hinunter. Da begriff ich auf einmal, dass diese Christinnen mich, ein jüdisches Kind, zu einer Sünde verführen wollten. Knien — und dazu noch vor einem Kreuz — das war etwas Furchtbares, ja so schlimm wie der Tod, vielleicht noch schlimmer.
Ich rannte hinaus und kam erst zu Atem, als ich weit weg war von jenen Frauen, hinter der ruthenischen Kirche, die mich den Augen der Polen, aber auch denen unserer Bedienten verbarg.
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 15. Februar
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