Als Manès Sper­ber im Jahre 1984 starb, hat­te er den Sech­stagekrieg, den Yom-Kip­pur-Krieg, den ägyp­tisch-israelis­chen Friedensver­trag unter Sadat/Begin und den ersten Libanon-Feldzug mit der Vertrei­bung der PLO aus Beirut erlebt. Er dürfte die diversen Kampfhand­lun­gen mit Sicher­heit als eine legit­ime Vertei­di­gung des noch jun­gen und bedro­ht­en Israel emp­fun­den haben. Aber was wäre wohl seine Hal­tung gegenüber der heuti­gen nation­al­re­ligiösen und zu einem guten Teil recht­sradikalen Regierung mit einem kor­rupten Anführer gewe­sen?

Der birsfaelder.li-Schreiberling erin­nert sich noch gut an die ein­drück­liche Lek­türe des 1967 erschiene­nen Buchs “Gottes erste Liebe.2000 Jahre Juden­tum und Chris­ten­tum” von Friedrich Heer, worin Heer den Lei­densweg der Juden in einem feindlich gesin­nten christlichen Umwelt schilderte. Auch Manès Sper­ber warf in “Chur­ban” einen Blick zurück auf das Schick­sal des jüdis­chen Volkes nach der Zer­störung des zweit­en Tem­pels in Jerusalem und der Vertrei­bung aus “Erez Israel” durch die Römer. Sein Fokus lag allerd­ings auf der Frage, warum das Juden­tum trotz dieser ulti­ma­tiv­en Katas­tro­phe nicht unterg­ing, son­dern in neuer Form über­lebte. Hier ein Auszug:
Die Aus­getriebe­nen fan­den ein Asyl in den südlichen und west­lichen Teilen des römis­chen Imperi­ums, wo sich ihre Glaubensgenossen bere­its Jahrhun­derte oder Jahrzehnte vorher niederge­lassen und den Ein­heimis­chen in vie­len Hin­sicht­en angeglichen hat­ten. Sie übten da alle Berufe aus: sie waren Land­wirte, Wein­bauern, Handw­erk­er, Händler, Matrosen und Beruf­s­sol­dat­en. In Rom spiel­ten sie, ähn­lich wie die Griechen, eine gewisse Rolle als Schreiber, Kopis­ten, Sekretäre, Dol­metsch­er und nicht zulet­zt als Schaus­piel­er. Indes bewahrten sie auch im römis­chen Schmelztiegel ihre Iden­tität, den Willen und die Fähigkeit, ein Volk zu bleiben, treue Erben und Wahrer ein­er Ver­gan­gen­heit und Träger ein­er uni­versellen Zukun­ft­shoff­nung.

Nicht der Rab­bi Aki­ba hat­te sie gelehrt, ohne Land und ohne eine priester­liche Autorität zu leben, son­dern der um eine Gen­er­a­tion ältere Rab­bi Jochanan-ben-Sakkai, der als Vizepräsi­dent des San­hedrins auch von den Römern anerkan­nt war. Jochanan hat­te alles getan, um die Auf­stände und deren dro­hende Ver­wand­lung in einen Krieg zu ver­hin­dern. Im belagerten Jerusalem bemühte er sich vergebens, die mil­itärischen und poli­tis­chen Führer zu einem Kom­pro­mißfrieden zu bewe­gen. Als die Lage hoff­nungs­los und die furcht­barste Nieder­lage so unver­mei­dlich wurde wie der Tod, da führte der gewiß sehr vere­in­samte Rab­bi einen Plan aus, der den Vertei­di­gern Jerusalems und nicht nur ihnen damals und noch lange Jahre nach­her als Ver­rat oder zumin­d­est als Fah­nen­flucht erscheinen mußte. Er ließ sich durch die weni­gen Jünger, die ihm geblieben waren, in einem Sarge aus der Fes­tung hin­aus­tra­gen und sodann von römis­chen Sol­dat­en zu ihrem Führer brin­gen, der natür­lich wußte, mit wem er es da zu tun hat­te. Der Rab­bi erhielt von ihm freies Geleit bis zu der kleinen Stadt Javne, nach­dem er sich verpflichtet hat­te, sich dort nur um eine höhere Schule zu küm­mern, die auss­chließlich dem Studi­um der Lehre gewid­met sein sollte. Der Römer erkan­nte unschw­er, welche Wirkung die Flucht dieses großen Mannes auf die Belagerten ausüben mußte, daher ließ er den Gelehrten ziehen.

Jochanan-ben-Sakkai aber tat dies, um die Juden zu lehren, ohne den Tem­pel, ohne die Priester und ohne Schlach­topfer, ja ohne ein eigenes Land und einen eige­nen Staat zu leben. So trat er in die Fußstapfen des Rab­bi Hil­lel, der schon vorher das Wohltun gelehrt hat­te und die Notwendigkeit für jeden, sich selb­st im andern zu erken­nen. Einem Edomiten, der von ihm ver­langte, er sollte die Quin­tes­senz des Judais­mus so kurz dar­legen, daß er ihm auf einem Fuße ste­hend zuhören kön­nte, wieder­holte Hil­lel den Satz aus der Tho­ra: »Liebe deinen Näch­sten wie dich selb­st.« Und er fügte hinzu, daß darin das ganze Gesetz enthal­ten sei.

Hil­lel überzeugte seine Jünger davon, daß auf Erden nichts so wichtig und sin­ngebend sei wie das »Ler­nen«, das unaus­ge­set­zte Studi­um der offen­barten Lehre wie der zahlre­ichen Schriften, die später als Bibel das ehrfürchtig und meist­ge­le­sene Buch der Welt wer­den sollte. Hil­lel sicherte all jenen das kün­ftige Leben zu, die das dies­seit­ige Leben dem Studi­um von Lehre und Gesetz wid­men wür­den. Eben diese Botschaft sollte Jochanans Javne ver­bre­it­en und jed­er der etwa 60 Gen­er­a­tio­nen ver­mit­teln, die sei­ther die Bürde des Jude­seins getra­gen und weit­ergegeben haben.

Wo auch immer die Exilierten sich befan­den, sie waren in der Fremde nicht allein, selb­st der Ein­sam­ste war es nicht, denn das tägliche Gebet ver­band ihn nicht nur mit Gott, son­dern auch mit all jenen, die nah und fern zur gle­ichen Stunde das gle­iche Gebet sprachen. Im Gegen­satz zum Gottes­di­enst im Tem­pel bedurfte es fort­ab kein­er Zer­e­monie, um »sich an Gott zu heften«, denn das Gebet war ein unmit­tel­bares Gespräch mit ihm. Und wer jede freie Stunde des Tages oder der Nacht dem Ler­nen wid­mete, dem lauschte der Schöpfer der Welt. Javne statt Jerusalem, diese Wahl Jochanans bedeutete den Verzicht auf die ver­hüll­ten Spuren des hei­d­nis­chen Gottes­di­en­stes, auf den Tem­pel und auf seine Priester, diese hab- und macht­gierig gewor­de­nen pro­fes­sionellen Ver­mit­tler.

Fort­ab war Jerusalem über­all dort, wo ein Men­sch sich Gott zuwandte. Wo zehn oder mehr Juden zusam­men waren, bilde­ten sie ein Min­jan, eine Bet­ge­mein­schaft — am Mor­gen, am Nach­mit­tag, am Abend — und jed­er von ihnen kon­nte Vor­beter sein. So wur­den die Juden in der Dias­po­ra ein Volk von Betern und »Lern­ern«, deren Lebensweise, beson­ders während der lan­gen Jahrhun­derte grausam­ster Ver­fol­gung, in jed­er Einzel­heit immer strenger im Sinne der religiösen Gebote und Ver­bote geregelt war. Dieses einzi­gar­tige Mönch­tum eines ganzen, tausend­fach ver­sprengten Volkes erk­lärt dem His­torik­er so gut wie dem Psy­cholo­gen dessen Über­leben, aber seine Geschichte zwis­chen 135 und 1979, diese Chronik eines Mar­tyri­ums ohne­gle­ichen, macht es unbe­grei­flich.

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 18. Okto­ber

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