Führer befiehl, wir fol­gen dir!” — Wer ken­nt nicht diesen Ruf von Aber­tausenden, die im Drit­ten Reich damit Adolf Hitler huldigten! Wo liegt der Unter­schied zum Begriff “Dik­ta­tor”? Ist der Begriff “Führer” sozusagen die Innen­sicht sein­er Anhänger, “Dik­ta­tor” die Aussen­sicht sein­er Geg­n­er?

Manès Sper­ber macht in seinem Essay “Zur Analyse der Tyran­nis” eine andere Unter­schei­dung: der “Führer” nicht als Syn­onym, son­dern als Gegen­bild, als Antithese zum “Dik­ta­tor”.

Es ist sozi­ol­o­gisch gut ver­ständlich, daß der mod­erne Tyrann alles daran set­zt, nicht als Tyrann, son­dern als Führer zu erscheinen. Der Sozi­ologe wird aus diesem Sachver­halt auf wesentliche Fortschritte, die das gesellschaftliche Bewußt­sein erzielt haben müsse, schließen. Der Tyrann darf es nicht wagen, sich dem Volke gegenüberzustellen, er muß ver­suchen, sich ihm als Führer voranzustellen.

Darum ist es wichtig, einiges über den Führer auszusagen, damit klar werde, daß er mit dem Tyran­nen nicht zu iden­ti­fizieren ist, daß er eine völ­lig andere Erschei­n­ung als der Tyrann darstellt. Trotz manchem Schein nicht ver­wech­sel­bar mit ihm, im Entschei­den­den sein Gegen­spiel­er, eine der Kräfte, die zur Besei­t­i­gung der Tyran­nis und zur Aufhe­bung ihrer Voraus­set­zun­gen führen müssen.

Zuvor ein sim­ples Beispiel: Wenn eine Gruppe von Men­schen einen Spazier­gang untern­immt, so wird sie je nach Geschmack und Laune bald in geschlossen­er Auf­stel­lung, bald in gelock­erten Grup­pen gehen. Man hat sich vorher über Ziel und Weg geeinigt, man braucht keine Führung. Wür­den Umstände ein­treten, die diesen Spazier­gang gefährlich macht­en, gle­ich­sam zu einem Durch­bruch durch ein feindlich­es Land, so würde es darum gehen, neue Spiel­regeln zu schaf­fen, diese Gruppe müßte sich ein Son­derge­setz geben. Sie würde eine Teilung der Funk­tio­nen ein­führen, die sich in dieser bedro­ht­en Sit­u­a­tion als dur­chaus sin­nvoll erweisen würde. Sie würde fern­er einem die Funk­tion geben, die Funk­tio­nen zu verteilen, und ihm überdies die Auf­gabe stellen, je nach Bedarf Änderun­gen und Anord­nun­gen zu tre­f­fen, sei es nach vorheriger Beratung mit allen oder, wenn die Gefahren beson­ders bedrän­gend sind, auf eigene Faust, allerd­ings mit der Bere­itschaft, nach­her all das zu ver­ant­worten. (Dieses war zum Beispiel der ursprüngliche Sinn der Dik­tatur im alten Rom.)

Im Führer schafft sich die volonte gen­erale einen Repräsen­tan­ten und gle­ichzeit­ig das ober­ste Exeku­tivor­gan. Dieses Organ unter­ste­ht denen, die es geschaf­fen haben und ist jed­erzeit verän­der­bar, abschaff­bar.

Massen­be­we­gun­gen entste­hen in jenen gle­ichen Zeit­en, in denen Führer notwendig wer­den: in Zeit­en ver­tiefter Nöte, zuge­spitzter Krisen, her­an­reifend­er Entschei­dun­gen. Zum Führer wird in der Massen­be­we­gung auserko­ren, wer am lauter­sten, am hinge­bungsvoll­sten ihrer Idee zu dienen, sich fähig und bere­it gezeigt hat. Der Führer ist somit der Diener der Idee, indes der Tyrann der Herr der Idee ist, die er notzüchtigt, so oft es seinen Plä­nen entspricht.

Der Führer weiß sich vor dem Volk und den anderen Instanzen, die es geschaf­fen hat, ver­ant­wortlich, von ihnen jed­erzeit kon­trol­liert. Eine Idee ist ver­loren, zutief­st entwertet, sobald ihre Anhänger keine Möglichkeit mehr haben, was mit ihr und in ihrem Namen geschieht, zu kon­trol­lieren, gutzuheißen oder zu ver­w­er­fen. Der Tyrann sagt: Ihr habt mir die Macht gegeben, keine Macht der Welt wird mich nun von hier ver­drän­gen kön­nen. Der Führer sagt: Meine Macht ist wom­öglich geringer als die jedes einzel­nen, der mir fol­gt. Der einzelne darf sich irren, und es kann unwichtig sein, ob er es nach­her zugeste­ht oder nicht. Wenn ich mich irre und meinen Fehler zu spät erkenne oder mich weigere, ihn zuzugeben und, was ich gefehlt habe, gutzu­machen, dann werde ich zum Ver­brech­er an unser­er Idee, zu ihrem gefährlich­sten Feinde.

Der Tyrann ver­langt, daß man ihm die Unfehlbarkeit zugeste­ht. Ein Führer, der das täte, lüde eine untrag­bare Ver­ant­wor­tung auf sich. Er würde damit aufhören, ein Führer zu sein.

Anders als der Tyrann ist somit der Führer täglich, stündlich auf seine Fähigkeit geprüft, und es wäre ein schw­er­er psy­chol­o­gis­ch­er Fehler, ein schw­er­er Schaden, den er sich selb­st zufü­gen würde, gewöh­nte er sich an die Macht, die ihm ja nur ver­liehen ist, so sehr, daß er sie brauchte. Er muß die Macht als das empfind­en, was sie in der Tat ist: eine unge­heure Last, eine stete Gefahr, eine nieder­drück­ende Ver­ant­wor­tung. Man ist im Kampf um die gesellschaftliche Macht, der natür­lich sin­nvoll ist, nur dann legit­imiert, wenn man sich von ihr für sich selb­st, für die eigene Per­son, kein größeres Stück abschnei­den will, als man jedem andern zugeste­ht.

Der Führer weiß, daß er, was er ist, durch die Idee ist, und er empfind­et sie als niemals abgeschlossen, gle­ich­sam als offen in der Rich­tung der Unendlichkeit. So wird er zwar mit größter Behar­rlichkeit dafür kämpfen, daß sie ver­wirk­licht werde, doch wird sie für ihn kein Dog­ma, nicht etwas wer­den, was geglaubt, aber nicht bewiesen wer­den muß. Der Führer ist ein Erzieher, und wirk­liche Erzieher hüten sich davor, durch Zwang, und sei es ein Zwang raf­finiertester Art, zu erre­ichen, was nur erre­icht ist durch die Überzeu­gung. Uner­bit­tlich gegen den Feind, bleiben sie all denen, auf deren Seite sie sind, Erzieher und als einzelne der Gemein­schaft unter­ge­ord­net.

Der Führer ist in steter Gefahr. Nicht nur, weil der Feind ihn bedro­ht, son­dern weil das Volk selb­st oder wenig­stens zurück­ge­bliebene Teile des Volkes den Führer magisch sehen, ihn gle­ich­sam in die Posi­tion des Tyran­nen zu drän­gen ver­suchen. Es kön­nte also sein, daß so der Führer sel­ber ver­führt würde. Auch mit seinem Namen wer­den Leis­tun­gen, die natür­lich nicht er oder nicht er allein voll­bracht hat, iden­ti­fiziert. Es wird sein Name zur Fahne gemacht, seine Erschei­n­ung vergöt­tlicht. Ob er dieser Ver­lock­ung wider­ste­ht oder nicht, ist nicht nur für ihn und für sein weit­eres Schick­sal belan­gre­ich, es kann auch für einen ganzen Geschichtsab­schnitt belan­gre­ich wer­den.

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 28. Juni

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