Die Tyran­nis kann nicht ent­ste­hen ohne die Zustim­mung wenigs­tens eines Teils des Vol­kes, stell­te Sper­ber in der letz­ten birsfaelder.li-Folge fest, und frag­te nach der psy­cho­lo­gi­schen Wur­zel der Tyran­nis. Hier zwei Bei­spie­le sei­ner Erklä­rungs­an­sät­ze:
Die meis­ten Erwach­se­nen füh­ren ein unbe­frie­di­gen­des Leben und flüch­ten in irgend­wel­che Sur­ro­ga­te ech­ter Erfül­lung.
Gleich­viel wie die Kind­heit des ein­zel­nen ver­läuft, sie ent­hält ein gro­ßes Ver­spre­chen: das Erwach­sen­sein. Alles, was die Kind­heit ver­sagt, wird vom Erwach­sen­sein erwar­tet: die Erwei­te­rung des Lebens­be­reichs, die Unab­hän­gig­keit, die Frei­zü­gig­keit in Ent­schluß und Hand­lung, ver­grö­ßer­te Genuß­mög­lich­kei­ten und der­glei­chen mehr. Sehr weni­gen hält das Leben dies Ver­spre­chen. Der größ­te Teil des wachen Lebens aller ande­ren wird von der Arbeit ein­ge­nom­men, einer Arbeit, die sie nicht gewählt haben, weil sie sie woll­ten, son­dern weil sie kei­nen andern Aus­weg sahen. Wie vie­le Men­schen haben denn den Beruf gewählt, zu dem sie sich beru­fen fühl­ten? Wie vie­le hat­ten denn über­haupt die Mög­lich­keit, in sich zu for­schen, wozu sie wohl beru­fen sein könn­ten? Die Ent­frem­dung zwi­schen Mensch und Arbeit ist heu­te genau in dem Aus­maß ver­schärft, wie es der Gegen­satz zwi­schen Reich­tum und Armut ist. Die Arbeit ist somit für die Über­zahl kein Quell der Lebens­freu­de, dies, obschon sie sich nach ihr seh­nen müs­sen, weil sie ohne sie zugrun­de gehen.

Da sie nicht rea­li­sie­ren, dass wah­re Erfül­lung im Leben nie­mals von aus­sen qua­si als Geschenk kom­men kann, son­dern in eige­ner Anstren­gung erar­bei­tet wer­den muss, sind sie anfäl­lig für die Sire­nen­ge­sän­ge von Macht­men­schen, die ihnen genau die­se Lebens­er­fül­lung ver­spre­chen. Man ver­glei­che ein­mal die fol­gen­den Aus­füh­run­gen Sper­bers mit den “Make Ame­ri­ca Gre­at Again”-Schal­mei­en­klän­gen von Donald Trump:
Wenn der Krä­mer von der nächs­ten Stra­ßen­ecke sich rui­niert sieht, weil eine schwe­re Welt­wirt­schafts­kri­se die Pro­duk­ti­on und die Kon­sum­ti­on so weit aus­ein­an­der­bringt, daß gleich­zei­tig zuviel pro­du­ziert und zuwe­nig kon­su­miert wird, dann ver­mag die­ser Krä­mer natür­lich das Wort Kri­se nach­zu­spre­chen. Er kann sich ihr even­tu­ell als einem Schick­sal beu­gen, aber natür­lich feh­len ihm alle not­wen­di­gen Erfah­run­gen, um zu erfas­sen, was die­se Kri­se ist, ob sie not­wen­dig ist und wodurch sie ver­meid­bar wäre. Er emp­fin­det sie als das Böse.
Für ihn wird das Böse mythisch, denn so ist es gefühls­mä­ßig am leich­tes­ten faß­bar. Es ist viel leich­ter, sich im Kampf gegen den fürch­ter­lichs­ten Teu­fel zu wis­sen als gegen Erschei­nun­gen, in deren Macht man ist, die aber so kom­pli­ziert Zusam­men­hän­gen, daß man sie genau nur an jenem Ende sieht, mit dem sie einen in der Gewalt haben. Es leben Mil­lio­nen Men­schen mit dem Bewußt­sein der Lokal­ge­schich­te in einer Welt, die nur welt­ge­schicht­lich begreif­bar ist. Sie könn­ten die Kri­se ihrer nächs­ten Nach­barn nur begrei­fen, wenn sie die Kri­se der Welt begrif­fen. Aber sie sind auf Grund ihrer gan­zen Vor­be­rei­tung geneigt, die Welt umge­kehrt aus dem Gesche­hen ihrer Gas­se zu begrei­fen.

Der Tyrann ver­spricht, die­se Kri­se zu über­win­den, den Wohl­stand für ewig zu sichern. Das ver­spre­chen ande­re auch. Er aber bie­tet noch mehr und sehr Wesent­li­ches: den Mythos vom Fein­de. Der Feind näm­lich, das ist der Nach­bar (die Demo­kra­ten, die Sozia­lis­ten, die Kom­mu­nis­ten, die Immi­gran­ten, die Femi­nis­tin­nen, die LGBTQ-Leu­te, die Woken, der Islam, usw. usw). Und wer hät­te nicht Nach­barn, die er haß­te? Der Feind, das ist ein Aus­wurf an Min­der­wer­tig­keit und tücki­scher List. Doch wer dem Tyran­nen anhängt, ist ein Vor­bild der Nati­on, ein Edler von Geburt, der es beweist, indem er sich zum Tyran­nen bekennt.
Bevor also der Tyrann dem Krä­mer wirk­lich gehol­fen hat, hat er ihm bereits wun­der­vol­le Geschen­ke gemacht.
— Er hat ihm — ers­tens — die kom­pli­zier­te Welt auf eini­ge simp­le, greif­ba­re Urgrün­de des Bösen und des Guten zurück­ge­führt. Nun ver­steht unser Krä­mer rest­los, war­um es ihm schlecht geht und einem andern bes­ser.
— Der Tyrann hat — zwei­tens — die­sem Mann den Haß gege­ben, die­sen Haß legi­ti­miert, ihn zu einem Beweis ade­li­ger Gesin­nung erho­ben. Was scham­haft ver­steckt wer­den muß­te, die­se gan­ze Ska­la von Gefüh­len, die aus dem Ver­gleichs­zwang her­rüh­ren und dazu die­nen sol­len, das Gefühl vom eige­nen Wer­te auf Kos­ten ande­rer zu heben — all das ist ehren­wert gewor­den. Man darf nei­disch sein und muß nicht glau­ben, daß man es ist. Die Ent­wer­tungs­ten­denz darf wirk­sam wer­den, und es ist eine gro­ße Tat.
— Drit­tens gibt der Tyrann die­sem klei­nen Man­ne ein Gefühl von Wert posi­ti­ver Art. Er sagt ihm: »Du und ich, wir zusam­men wer­den es schaf­fen. An dich denkt nie­mand außer mir. Du bist ich und ich bin du.« Die­se leut­se­li­ge Iden­ti­fi­ka­ti­on in der Pro­pa­gan­da für den Tyran­nen muß natür­lich eine aus­ge­zeich­ne­te Wir­kung haben. Die klei­nen Krä­mer bemer­ken nicht, daß das hel­le Licht, in dem der Tyrann steht, sicht­bar und bewun­derns­wert für alle, von ihren Fackeln kommt. Sie mer­ken nicht, daß es ihr eige­nes Licht ist, und fin­den, daß es gar schön ist von einem so gro­ßen Herrn, mit ihnen so auf du und du zu sein.

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