Rudolf Isler, Autor der Mono­gra­phie “Manès Sper­ber, Zeuge des 20. Jahrhun­derts — eine Lebens­geschichte” bringt die innere und äussere Sit­u­a­tion Sper­bers nach dem Bruch mit der Kom­mu­nis­tis­chen Partei auf den Punkt:
Für Sper­ber scheint es die fol­gen­re­ich­ste Erfahrung seines Lebens gewe­sen zu sein, dass er dort die grösste Ent­täuschung erlebte, wo er sich am meis­ten erhofft hat­te, dass näm­lich der Sozial­is­mus in Dik­tatur und Tyran­nei mit Begleit­er­schei­n­un­gen wie Gulag, Schauprozess und Säu­berun­gen endete und nicht zur Aufhe­bung von Ungerechtigkeit, Ungle­ich­heit und Elend, zu Frieden und Volks­bil­dung beige­tra­gen hat­te. Diese Ent­täuschung, die er oft als die grösste Nieder­lage seines Lebens beze­ich­nete, mün­dete in eine uner­müdliche, kri­tis­che Auseinan­der­set­zung mit dem Zeit­geschehen und in Fragestel­lun­gen, die in for­t­an zen­tral beschäftigten: Fra­gen nach Autorität und Abhängigkeit, nach Herrschaft und Gefol­gschaft, nach Anpas­sung und Wider­stand. (Isler, p. 58)

Sper­ber beschreibt sich alsin ein­er Trauer, für die ich keinen Aus­druck suchte. Ich ver­lor, ich würde noch sehr lange in allem ein Ver­lier­er bleiben, das emp­fand ich wie eine Gewis­sheit; der Trauer war eine merk­würdi­ge Genug­tu­ung beige­mengt, fast eine Schaden­freude, denn alles schien fol­gerichtig: So tief musste ich fall­en … Nie­mand kon­nte die gefährliche Mut­losigkeit ermessen, in welch­er ich dahin­lebte … (Isler, p. 56)

In sein­er Romantrilo­gie lässt er die Haupt­fig­ur Dojno Faber im Gespräch mit einem Fre­und die ganze innere Zer­ris­senheit zusam­men­fassen:
»Du hast Men­schen zur Partei gebracht, ich habe es getan. Sie haben mit ihrer Ver­gan­gen­heit gebrochen, mit Fre­un­den, mit ihrer Fam­i­lie — im Namen der Hoff­nung, die wir ihnen verkün­det haben. Was sollen wir ihnen jet­zt sagen, wenn wir sie als Trug oder, schlim­mer, als vergiftete, in ihr Gegen­teil verkehrte Wahrheit enthüllen? Was sollen wir ihnen anbi­eten? Deine Ein­samkeit? Meine Ein­samkeit?«

Doch gle­ichzeit­ig waren schon die ersten Keime für ein unab­hängiges Denken und Forschen jen­seits von Ide­olo­gien und fest­ge­fahre­nen Weltan­schau­un­gen gelegt. Das zeigt sich darin, dass er im Okto­ber 1937, also noch im gle­ichen Jahr, in dem er mit der Partei brach, inner­halb von sechs Wochen in Wien “Zur Analyse der Tyran­nis” ver­fasste. Der säku­lar­isierte mes­sian­is­che Traum, mit dem Kom­mu­nis­mus eine neue gerechte Welt des Friedens zu erricht­en, hat­te sich als Illu­sion erwiesen. Jet­zt galt es, die Gründe für das schmerzhafte Zer­platzen dieses Traumes zu find­en.

Und Manès Sper­ber schürfte dabei ziem­lich tief. Äussere sozi­ol­o­gis­che Gründe inter­essierten ihn weniger, das Innen­leben des Men­schen als Grund­lage für die Entste­hung ein­er Tyran­nis ste­ht im Zen­trum sein­er Analyse. Hier ein erster klein­er Auszug aus dem Kapi­tel “Die Voraus­set­zun­gen der Tyran­nis”:

Die übliche Geschichtss­chrei­bung hat eine selt­same Scheu bewiesen, das Volk zu schildern. Pharao­nen haben die Pyra­mi­den gebaut, Feld­her­ren haben die Schlacht­en geschla­gen, die Kul­tur war das Werk von Fürsten­höfen, die großen Katas­tro­phen die Tode von Großen — kurz, das Volk, sofern es über­haupt erscheint, tut es wie auf der Schmieren­bühne, pit­toresk ver­wahrlost und mit dem immer gle­ichen Text »Rhabar­ber, Rhabar­ber«.

Schon Voltaire beklagte diese Eigen­heit der Geschichtss­chrei­bung. Obschon selb­st His­to­ri­o­graph am Hofe Lud­wigs XV. und Schilder­er von Schlacht­en, ver­langte er von der Geschichte, daß sie sich haupt­säch­lich dem Leben des Volkes selb­st zuwende, seine Sit­ten schildere, seine Eigen­heit­en, daß sie schildere, wie das Volk Geschichte mache. Solche Ein­sicht hat wenig genutzt, eben­sowenig wie etwa die Ein­sicht eines La Bruyère (1645–1696), der schrieb: »Les grands n’ont point d’âme … Faut-il opter? Je ne bal­ance pas, je veux être peu­ple.« (Les Grandes Car­ac­tères) Das Volk blieb anonym und die treiben­den Kräfte der Geschichte pseu­do­nym.

Es ist außeror­dentlich leicht, den Ein­druck zu gewin­nen, es sei das Volk, als was es immer geschildert wor­den ist: stumpf, leicht erreg­bar, leicht ver­führbar, dumm und unfähig, seine eige­nen Inter­essen zu erken­nen und zu vertreten. Ins­beson­dere dieses Jahrhun­dert hat eine solche Auf­fas­sung vom Volke bestärken kön­nen. Intellek­tuelle Beobachter kon­nten leicht die von einem tiefen Haß gegen die Massen dik­tierten Lehrsätze eines Gus­tave Le Bon (Psy­cholo­gie der Massen) gerecht­fer­tigt find­en. Einen viere­in­hal­b­jähri­gen Weltkrieg ertra­gen, unter ihm maß­los lei­den, schwören, daß all das nie vergessen wer­den solle, und doch vergessen haben, ehe die hölz­er­nen Kreuze ver­fault sind — spricht dieser Man­gel an Gedächt­nis nicht für Dummheit, nicht für vol­lkomme­nen Man­gel an Gedächt­nis?

Einem Tyran­nenan­wärter glauben, daß er alle Ver­sprechun­gen erfüllen wird, obschon sie einan­der wider­sprechen, das eigene Gestern, die Begeis­terung von gestern ver­leug­nen, es vergessen haben, als ob es nie gewe­sen wäre — sollte all das nicht für die Le Bon’sche The­o­rie sprechen, daß die Masse nur vom Affekt dirigiert und kein­er­lei Ver­nun­ft zugänglich ist?

Wir sagten schon an ander­er Stelle, daß die Tyran­nis nur entste­hen kann, wenn ganz beson­dere gesellschaftliche Bedin­gun­gen sie ermöglichen. Diese haben nicht wir zu erforschen, sie sind Gegen­stand der Sozi­olo­gie. Indes, was das Psy­chis­che an diesen Erschei­n­un­gen ist, was der einzelne in der Masse ist, das haben wir zu unter­suchen. Denn die Tyran­nis kann nicht entste­hen ohne die Zus­tim­mung wenig­stens eines Teils des Volkes. Auch die Tyran­nis hat somit wenig­stens bei Beginn ihrer Herrschaft und erst recht auf dem Wege zu ihr einen bre­it­en Anhang im Volke. Somit gibt es dieses: daß jemand sich nach der starken Hand, die über ihm wal­ten soll, sehnt, daß jemand darauf bren­nt, seine Frei­heit an jeman­den hinzugeben, von dem er sie nach his­torischen Erfahrun­gen niemals mehr zurück­bekom­men wird, daß also im Volke eine Sehn­sucht nach ein­er Gewalt sein kann, die der einzelne in seinem per­sön­lichen Leben ablehnen würde, sofern er ihr Objekt sein müßte. Wie ist dies zu erk­lären? Und solange dies nicht erk­lärt ist, ist die psy­chol­o­gis­che Wurzel der Tyran­nis nicht erk­lärt.

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 7. Juni

An anderen Serien inter­essiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink / Nar­rengeschicht­en / Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­woche und Don­ald Trump / Die Welt­woche und der Kli­mawan­del / Die Welt­woche und der liebe Gott /Lebendi­ge Birs / Aus mein­er Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reich­sidee /Voge­sen Aus mein­er Bücherk­iste / Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­bach­er  / A Basic Call to Con­scious­ness Leon­hard Ragaz / Chris­ten­tum und Gno­sis / Hel­ve­tia — quo vadis? / Aldous Hux­ley / Dle WW und die Katholis­che Kirche / Trump Däm­merung / Manès Sper­ber /Reinkar­na­tion

dr kupfrig Stänzler
ÖV in Birsfelden, oder ein Auto in Singapur

1 Kommentar

Kommentiere

Deine Meinung