Im Som­mer 1958 unter­nah­men Aldous und Lau­ra eine Reise über Mexiko und Peru nach Brasilien. Damit fol­gten sie ein­er Ein­ladung der brasil­ian­is­chen Regierung:
Ein offizieller Emp­fang jagte den näch­sten, Jour­nal­is­ten fol­gten ihm auf Schritt und Tritt, drei Tageszeitun­gen berichteten, in ein­er gab es eine tägliche Kolumne. Aldous fühlte sich, als wäre er “der schiefe Turm von Pisa” …: “Man behan­delt  mich zwar mit ausseror­dentlich­er Liebenswürdigkeit hier, aber auch ein biss­chen wie ein his­torisches Gebäude”. 

Nach einem Regierungsemp­fang, dem Besuch der neuen Haupt­stadt Brasil­ia — wo er den Architek­ten Oscar Niemey­er traf -, und ein­er Begeg­nung mit dem brasil­ian­is­chen Sozi­olo­gen und Anthro­polo­gen Gilber­to Freyre, macht­en Hux­ley und seine Frau zwei beein­druck­ende Erfahrun­gen.

In ein­er Favela durfte er einem Can­domblé-Rit­u­al bei­wohnen.
Can­domblé ist eine afro-brasil­ian­is­che Reli­gion, die ins­beson­dere in Brasilien prak­tiziert wird und dort sehr ver­bre­it­et ist. Diese afrikanis­chen Wurzeln resul­tieren aus der Ver­schlep­pung der ver­sklavten Afrikan­er, die ab dem 16. Jahrhun­dert, vor allem aber zwis­chen dem 18. und dem 19. Jahrhun­dert nach Brasilien gebracht wur­den (…)
.Früher war die Reli­gion des Can­domblé in Brasilien auf Ange­hörige des Sklaven­standes beschränkt und wurde von Regierun­gen und von der katholis­chen Kirche diskri­m­iniert. Heute ist die Reli­gions­frei­heit nicht nur in Brasilien, son­dern auch in allen anderen lateinamerikanis­chen Län­dern geset­zlich ver­bürgt. Die katholis­che Kirche ver­hält sich gegen­wär­tig gegenüber der afro-brasil­ian­is­chen Reli­gion meist neu­tral. Zu erwäh­nen ist jedoch, dass evan­ge­likale Fun­da­men­tal­is­ten noch heutzu­tage den Can­domblé und andere afro-amerikanis­che Reli­gio­nen in Lateinameri­ka wieder als Teufel­swerk ver­dammen und ver­fol­gen. Dage­gen ist der Can­domblé mit inzwis­chen vie­len Mil­lio­nen Anhängern aus ver­schieden­sten Orten der Welt sowie Ange­höri­gen unter­schiedlich­ster sozialer Schicht­en eine der größten etablierten Reli­gio­nen in Brasilien. (aus: https://candomble-berlin.de/candomble/)

Hux­ley war fasziniert: Das Rit­u­al liess ihn die kory­ban­tis­chen Rit­u­altänze des antiken Griechen­land bess­er ver­ste­hen. Plöt­zlich sah er live, wovon er nur in alten Büch­ern gele­sen hat­te — “bis hin zu den Gesten”. 

Die zweite ein­drück­liche Erfahrung war der Besuch ein­er Indi­an­er­sta­tion am Ober­lauf des Rio Xin­gu, mit­ten im Dschun­gel von Mat­to Grosso. Dort traf er Clau­dio Vil­las Bôas (im Bild links), der mit seinen bei­den Brüdern Orlan­do und Leonar­do uner­müdlich für den Schutz von indi­ge­nen Völk­ern vor den weis­sen Ranch­ern kämpfte.
Sie waren fast die ersten Nicht-Mis­sion­are, die dauer­haft mit den Ein­heimis­chen zusam­men­lebten, und sie behan­del­ten sie als Gle­ichgestellte und Fre­unde. Sie überzeugten Stämme, ihre inter­nen Fehden zu been­den und sich zusam­men­zuschließen, um der vor­rück­enden Sied­lungs­gren­ze ent­ge­gen­zutreten.

Clau­dio Vil­las Bôas kam aus dem Dschun­gel und wurde dem Besuch vorgestellt. Der Anthro­pologe kon­nte seinen Ohren nicht trauen: “Ush­ley? Der Ush­ley? … Con­trapon­to?” Stand hier wirk­lich der Mann vor ihm, der “Kon­tra­punkt des Lebens” geschrieben hat­te? Freuden­trä­nen standen Vil­las Bôas in den Augen, als er Aldous bei der Hand nahm, um im kühlen Schat­ten ein­er der Hüt­ten mit rauer Stimme erregt auf den berühmten Autor einzure­den, als habe er seit langer Zeit auf diese Gele­gen­heit gewartet. Die Rührung beruhte auf Gegen­seit­igkeit. Dass sein Name noch in den äusser­sten Winkeln des Ama­zonas solche Gefühlswal­lun­gen erzeu­gen kon­nte, war für Hux­ley eine der ausseror­dentlich­sten Ehren­bezeu­gun­gen.

Eine weit­ere Ehren­bezeu­gung lehnte er allerd­ings ab: Sein Brud­er Julian war von der Köni­gin zum Rit­ter “Sir Julian” gead­elt wor­den, und Aldous sollte die gle­iche Ehrung zuteil wer­den,
aber er lehnte unter dem Vor­wand, dass er ja nicht mehr im Com­mon­wealth resi­diere, höflich ab. Inof­fiziell waren Lau­ra und Aldous sich allerd­ings darin einig, dass die Ansprachen “Sir Aldous” und “Lady Lau­ra” nicht zu ihrem Lebensstil passten.
(alle grü­nen Tex­tauszüge wie immer aus: Rasch / Wag­n­er, Aldous Hux­ley)

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 9. Novem­ber

An anderen Serien inter­essiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink / Nar­rengeschicht­en / Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­woche und Don­ald Trump / Die Welt­woche und der Kli­mawan­del / Die Welt­woche und der liebe Gott /Lebendi­ge Birs / Aus mein­er Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reich­sidee /Voge­sen Aus mein­er Bücherk­iste / Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­bach­er  / A Basic Call to Con­scious­ness Leon­hard Ragaz / Chris­ten­tum und Gno­sis / Hel­ve­tia — quo vadis? / Aldous Hux­ley / Dle WW und die Katholis­che Kirche / Trump Däm­merung

Rösti-Röhre NEIN ! 2
Aus meiner Fotoküche 175

Deine Meinung