Im Dezember 1939 rückte Manès Sperber ein. Mit seinem Freund André Malraux, der sich einer Panzer-Brigade anschliessen wollte, besprach er Möglichkeiten, mittels ihrer Lebenspartnerinnen den Kontakt aufrechtzuerhalten. Arthur Koestler gab ihm eine weisse Pille “für den Fall, daß der sofortige Tod der einzige Ausweg wäre. Ich bewahrte sie in einer versteckten Falte meines Portemonnaies auf. Sie ging mir während des Rückzugs verloren, gerade am Ende der Nacht, in der ich befürchtete, daß der anbrechende Tag für mich der letzte sein könnte.”
Ernüchtert musste er feststellen, wie schlecht die französische Armee vorbereitet und ausgerüstet war: … was uns während der brutalen und so gut wie völlig unzulänglichen, verfehlten Instruktion in jenem kalten Winter zustieß, das haben auch andere in anderen Armeen mitgemacht. Das den Franzosen nachgerühmte Talent, Lösungen zu improvisieren, versagte in jenen Monaten fast ununterbrochen. Wir wurden in baufälligen Scheunen untergebracht, deren Dächer und Wände löchrig waren; wir froren auf dem verfaulten Stroh, wurden eingeregnet, eingeschneit, da unsere Quartiere natürlich unheizbar waren. Überdies lagen sie so weit von der Küche, daß das Essen immer kalt war, bis es zu uns gebracht wurde. Die Uniformen, die wir trugen, waren schon im Ersten Weltkrieg schäbig und fleckig geworden, ein großer Teil der Gewehre stammte aus dem 19. Jahrhundert; sie taugten hauptsächlich für die endlosen Übungen, die uns auf Paraden, aber nicht auf Kämpfe vorbereiteten. (…)
Ob wir nun in einer Scheune untergebracht waren oder in einer Kaserne, ob wir in langen Märschen mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken Kilometer fraßen oder bei den Übungen mit oder ohne Gewehr auf den verschneiten, aufgeweichten Feldern herumstanden — all das wurde uns schnell genug alltäglich und blieb dennoch absurd. Die schlecht sitzenden, schäbigen Uniformen ersetzten nicht die Zivilistenkleidung, sie waren lächerliche Verkleidungen.
Aber nicht alles war grau, trübe und absurd:
Ich war ein mittelmäßiger Soldat, ein schlechter Schütze, doch unermüdlich in den Gewaltmärschen, die zu unserer Ausbildung gehörten. Ich gewann Freunde, nicht nur unter den Intellektuellen, und als Briefschreiber wurde ich besonders deshalb geschätzt, weil ich keine Entlohnung verlangte. Unter den Kameraden, die meine Dienste beanspruchten, gab es kluge Menschen, zartfühlende und einige, deren Güte mich um so mehr beeindruckte, als keiner von ihnen je vom Glück begünstigt worden war. Der Begegnung mit ihnen verdanke ich die Einsicht, daß absichtslose, natürliche Güte sowohl den, der sie ausübt, wie jene, denen sie zugute kommt, zwar gewiß nicht vor Unglück bewahrt, aber gegen dessen seelische Nachwirkungen besser feit als alles andere. Ich entdeckte in manchen dieser Bedrückten eine seelische Kraft, die sich nicht nur im Erleiden bewährte, sondern auch in ihrer Art, still, doch, unbeirrbar dem zu widerstehen, was sie als schlecht oder ungerecht empfanden. (…)
In keiner der Organisationen, denen ich je angehört hatte, war ich dem Volk wirklich begegnet — hier aber in dieser seltsam zusammengewürfelten Armee von Freiwilligen, hier begegnete ich ihm wieder — zum ersten Mal seit ich das Städtel verlassen hatte, doch diesmal als ein Erwachsener, der wußte, was Elend ist und Sorge um das tägliche Brot.
Wenn ich mich in tiefster Stille »in mich selber beugte«, schien’s mir zuweilen, als ob ich noch eine andere als nur die eigene Stimme hörte — nein, nicht die Stimme des »einfachen« Mannes, sondern eine, die sich wohl seit Jahrtausenden nicht geändert hat: die gepreßte Stimme des schwer atmenden Menschen, der, mit einer zu schweren Last auf den Schultern, geht und geht und niemals ankommt.
Zu einem Fronteinsatz kam es nie. Als sich nach dem Angriff der Deutschen via Holland und Belgien eine militärische Katastrophe abzuzeichnen begann, sollte sein Bataillon so rasch als möglich an die Front transportiert werden, doch
.. an einem Morgen entdeckten wir, daß fast alle unsere Offiziere verschwunden waren; unsere Reihen lichteten sich, viele flüchteten auf Lastwagen, die gegen Westen oder Süden fuhren, so dicht mit Soldaten angefüllt, daß alle stehen mußten. In der gleichen Richtung fuhren Personenwagen, die die Offiziere und deren Familien in Sicherheit brachten. Wir sahen sie an uns vorbeiflitzen, wir marschierten gegen Osten oder Norden.
In einem Städtchen machten wir halt, um in einem Wirtshaus die Radionachrichten zu hören. Wir vernahmen die Stimme eines alten Mannes — es war Marschall Pétain; er bot den Deutschen die Kapitulation an.
Wenn es nur irgend möglich war, hielten wir uns von den Straßen fern und marschierten durch Wälder, über Felder. Häufig mußten wir jedoch zur Landstraße zurückkehren, um uns in Dörfern oder kleinen Städten Nahrung zu verschaffen. Sooft wir in eine Stadt kamen, marschierten wir in geschlossenen Reihen und sangen Marschlieder mit so kräftiger Stimme, als ob wir zum Äußersten entschlossen wären, und ganz besonders laut, wenn wir an Café-Terrassen vorbeikamen, wo Einheimische gemächlich ihren Apéritif schlürften. Es war, als hätte sich das Volk, die Bauern so gut wie die Städter, mit der katastrophalen Niederlage abgefunden; sie fanden Trost in der Gewißheit, daß ihre Söhne heil nach Hause kommen würden. Noch einige Tage, höchstens Wochen — alles würde wieder sein wie früher.
Die Erde blieb fest unter ihren Füßen, das Getreide reifte auf ihren Feldern wie die Früchte auf ihren Bäumen, in ihren Kellern alterte wohlgeschützt der Wein. All das war unversehrt geblieben, war unverlierbar. Nur wir, wir mußten denken, nur wir hatten den Krieg und damit Frankreich verloren. Unser Anblick war den anderen lästig, denn er erinnerte sie daran, daß die grande nation fast kampflos kapituliert hatte und sich nun dem Willen des Feindes unterwarf.
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 2. August
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