„Jedes Leben ist ein Experiment. Je mehr Du experimentierst, desto mehr lebst Du.“
Ralph Waldo Emerson
Du sollst nicht die Welt dir zu eigen machen, du sollst nichts wagen und nicht nach dem unendlichen Gesetze in dir leben, … , sondern du hast deine Natur der Natur Christi unterzuordnen …, warf Emerson anlässlich seiner berühmten Rede in der Harvard Divinity School den Kirchen vor und dürfte mit diesem Vorwurf den einen oder anderen angehenden Pastor ziemlich vor den Kopf gestossen haben. Damit scheint er in einem klaren Widerspruch zur Position seines europäischen Geistesverwandten Ignaz Troxler zu stehen, der seinerseits Christus als Grundlage einer eigenständigen Entwicklung des Menschen betrachtete.
Doch dieser Widerspruch löst sich sofort auf, wenn wir die Ergänzung lesen: … und für die letztere (die Natur Christi) hast du unsere Interpretation anzunehmen (nämlich die kirchliche).
Es ist eine unleugbare Tatsache, dass sämtliche Kirchen die Gestalt Jeshua ben Josephs / Jesu Christi bis heute als “einzigen Gottessohn” auf ein unerreichbares Podest stellen. Wir sind als arme Sünder nicht in der Lage, seine Gottesnähe und ‑erkenntnis zu erlangen, obwohl er selber verkündet hatte: Stehet nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt, ihr seid Götter? (Johannes 10:34), oder Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubet, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere denn diese tun; denn ich gehe zum Vater. (Johannes 14:12).
Dass Emerson lediglich dieses verfälschte und lähmend wirkende kirchliche Bild Christi angriff, wird deutlich, wenn er etwas später in seiner Rede ausführte: Des wahren Predigers Aufgabe ist es, uns zu zeigen, daß Gott ist, nicht daß er war; daß er spricht, nicht daß er gesprochen hat. Das wahre Christentum – ein Glaube an die Unendlichkeit des Menschen, wie der Christi war – ist verloren gegangen.
Wie Troxler insistierte er, dass das wahre Christentum nur im ureigensten Inneren gefunden werden kann, und keinesfalls im Nachbeten eines äusseren dogmatischen kirchlichen Dogmas:
Immer ist das das Beste, was mich mir selbst gibt. Das Erhabenste in mir wird durch die große stoische Lehre: »Gehorche dir selbst« angeregt. Das, was Gott in mir zeigt, stärkt mich. Das, was Gott außerhalb meiner zeigt, das macht mich zu einer Warze, zu einem Auswuchs. Dann gibt es keinen notwendigen Grund für mein Dasein mehr.
Wer irgend einem Dogma anhängt, entfernt sich gemäss Emerson von der wahren Gotteserfahrung in seinem eigenen Inneren:
Kein Mensch hat den ernsten Ehrgeiz, das Selbst der Nation und der Natur zu sein, sondern jeder möchte gern ein bequemer Nachtreter irgend eines christlichen Systems, irgend einer Sekte oder irgend eines hervorragenden Mannes sein. Laßt nur einmal eure eigene Gotteserkenntnis, euer eigenes Gefühl fahren und empfanget Lehre aus zweiter Hand, sei es vom Apostel Paulus, von George Fox oder Swedenborg – und ihr entfernt euch mit jedem Jahre, daß diese Religion aus zweiter Hand währet, weiter von Gott, und wenn dies, wie jetzt, durch Jahrhunderte andauert, dann gähnt der Abgrund zuletzt so weit, daß die Menschen kaum mehr glauben wollen, daß irgend etwas Göttliches in ihnen ist. ..
Weh’ mir! Kein Mensch mehr geht allein. Alle strömen herdenweise zu diesem oder jenem Heiligen oder Poeten und meiden den Gott, der in das Verborgene schaut. Sie, die im Verborgenen nichts sehen können und lieber auf den Straßen blind sind: sie halten die Gesellschaft für klüger als ihre Seele und wissen nicht, daß eine Seele – ihre Seele weiser ist als alle Welt.
Zum Schluss rief er den angehenden Pastoren entgegen:
So ermahne ich euch denn vor allem anderen, allein zu gehen, alle guten Vorbilder zu verschmähen, selbst diejenigen, die den Menschen noch so geheiligt erscheinen, und Gott ohne Mittler, ohne Schleier zu verehren.
Ihr werdet Freunde genug finden, die euch Wesleys und Oberlins, Heilige und Propheten zur Nacheiferung empfehlen werden. Dankt Gott für diese guten Leute, aber sprecht: Auch ich bin ein Mensch. Kein Nachahmer kann sein Vorbild überflügeln, und so verdammt sich der Nachahmer selbst zu hoffnungsloser Mittelmäßigkeit.
Er forderte sie auf, mutig ihren eigenen Weg zu gehen und Neues zu wagen, indem sie sich dem Geist in ihrem eigenen Inneren öffnen:
Und nun, meine Brüder, werdet ihr fragen: Was können wir in diesen kleinmütigen Tagen tun? – In unserer Klage über die Kirche ist auch das Heilmittel schon ausgesprochen. Wir haben die Kirche dem Geiste entgegengesetzt. Nun denn, im Geiste liegt die Erlösung. Wo ein Mann auftritt, bringt er eine Revolution mit sich. Das Alte ist für Sklaven. Wenn ein Mann auftritt, werden alle Bücher lesbar, alle Dinge durchsichtig, alle Religionen zu Formen. Nur er ist religiös. Er ist es, der Wunder wirkt, der unter Wundern geschaut wird. Alle anderen Leute segnen und fluchen; er aber sagt nur: Ja, ja; nein, nein. Die Starrheit unserer Religionen; die Annahme, daß die Zeit der Inspiration vorüber und die Bibel abgeschlossen sei; die Furcht, Jesus herabzusetzen, wenn man ihn als Menschen auffaßt: alles dies zeigt klar genug, wie falsche Wege unsere Theologie wandelt.
Dieser Aufruf zu innerer Selbständigkeit ist in einem seiner Aphorismen wunderschön zusammengefasst:
Gehe nicht, wohin der Weg führen mag, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur.
Diesem Gedanken widmete er auch ein eigenständiges Essay: “Vertraue dir selbst. Ein Aufruf zur Selbständigkeit des Menschen”. Ihm widmen wir die nächste Folge
am Samstag, den 11. Dezember
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Osterwalder
Dez 5, 2021
Guten Morgen Herr “Feu(e)rer” — Ihre geschichtlichen Anmerkungen und Andekdoten sind bemerkenswert, denke ich oft. Allerdings füge ich den genannten Aphorismen zielorientiert den Psalm 37.5 bei: “Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen”… Freundliche Grüsse, Alex Osterwalder
Franz
Dez 5, 2021
Nicht so bibelfest, aber auch gut:
»Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.«
Max Feurer
Dez 5, 2021
Beide Kommentare stehen nicht im Gegensatz, sondern ergänzen sich aus meiner Sicht:
Wenn wir erkennen, dass Gott sich durch unsere von ihm gegebene unsterbliche Individualität manifestieren will und unsere Geschicke nicht etwa von irgendeiner Wolke 7 aus steuert, leitet sich daraus unsere Selbstverantwortung ab, sich dieser Individualität bewusst zu werden. Da dies beileibe kein einfaches Unterfangen ist und Arbeit an sich selbst voraussetzt, ist gleichzeitig ein tiefes Urvertrauen notwendig, dass er es “wohl machen wird”.
Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang einmal die Rede von Hans Jonas “Der Gottesbegriff nach Auschwitz” zu lesen …
Hans-Jörg Beutter
Dez 5, 2021
ganz in diesem sinne!
ich glaube auch an den heiligen morgenstern
(»und die rehlein falten ihre zehlein« – jedem das seine, jeder das ihre)
Ueli Kaufmann
Dez 5, 2021
Uund auch hier zitiere ich immer wieder gerne einen meiner ca. zehn Lieblingspoeten, heute Ernst Jandl:
zweierlei handzeichen
ich bekreuzige mich
vor jeder kirche
ich bezwetschkige mich
vor jedem obstgarten
wie ich ersteres tue
weiss jeder katholik
wie ich letzteres tue
ich allein
Osterwalder Alex
Dez 6, 2021
Herr Feurer, Herr Beutter — ja ganz in diesem Sinne, da kann ich voll beistimmen. Uebrigens Herr Beutter den heiligen Morgenstern gib es tatsächlich. [(1. Petrus 2.19/Offb.22.16) https://www.bibelpraxis.de/a3923.html%5D Freundliche Grüsse, Alex Osterwalder.
Alex Osterwalder
Dez 6, 2021
- sorry wie sich das *.html%5D reingeschlichen hat entzieht sich mir?! https://www.bibelpraxis.de/a3923.html — Alex Osterwalder