Wir im Westen waren mit ganzer Seele mit den russischen Revolutionären der Oktoberrevolution. Wir zitterten für sie, wie sie selber wohl kaum zitterten. Denn nun würde ja erst der große Kampf beginnen, der Kampf der ganzen kapitalistischen Welt gegen Rußland und gegen die Weltrevolution, die zu schüren und zu organisieren dieses neue Rußland als nächste Aufgabe sich setzte.
So schilderte Brupbacher seine Seelenlage angesichts der sich überstürzenden Ereignisse in seiner zweiten geistigen Heimat. All seine revolutionären Hoffnungen erwachten erneut. Karl Lang urteilt sicher zu Recht, wenn er festhält:
Seit er Sozialist war, hatte Russland in seinem politischen Denken eine Schlüsselposition eingenommen. Durch Lydia Petrowna hatte er sich ganz in die Gedankenwelt der russischen Revolutionäre eingelebt. Pierre Monatte schrieb nach Brupbachers Tod über dessen Bindung an Russland: “Im Scherz schrieb er, er sei mit Russland verheiratet gewesen. Tatsächlich waren seine drei Frauen alle Russinnen. Durch sie war er gleichzeitig mit dem Land, dem Volk und mit der russischen Gedankenwelt verheiratet”. (Lang, Brupbacher)
Was im fernen Russland möglich war, warum sollte es nicht auch in der Schweiz gelingen?
Brupbacher nährte zu Beginn entsprechende Hoffnungen: Wir verweilten nicht lang bei der Frage, wie die revolutionäre Minorität zusammengebracht würde, sondern phantasierten uns gleich die Besetzung der Telegraphen aus und die der Munitionsdepots, und wie wir unsere Regierung gefangen nehmen, unsere Polizei einsperren, unsere Banken, Lebensmittelgeschäfte, Kornhäuser und Bahnhöfe besetzten, wie wir provisorisch die Landwirtschaft, den Zivildienst organisierten und mit den in den Arbeiterunionen organisierten Arbeitern eine rote Armee bildeten. Wir spielten fast wie Kinder in der Phantasie Bolschewiki.
20 Jahre später schilderte er im Rückblick die damaligen revolutionären Wallungen mit einer gehörigen Prise Sarkasmus:
Alles, was sonst als stiller Psychopath in irgendeinem Loch vegetierte, begann in die öffentlichen Angelegenheiten sich zu mischen. Die revolutionäre Politik begann sich zu bevölkern mit verdrehten Hühnern und mit wütend gewordenen Reformisten ; jeder Sadist und Querulant politisierte schon seine verdrehten Affekte, wie das in unruhigen Zeiten immer zu sein pflegt. Die Exhibitionisten stunden auf Tribünen, die Sadisten dekretierten Ausschlüsse und hielten bluttriefende Reden, die Geschäftsleute strichen ihre Buden rot an, die Maler, die nicht malen konnten, und die Schriftsteller, die nicht schreiben konnten, wüteten gegen die bürgerliche Kunst und erfanden proletarische Malerei und Literatur. Männer, die an sexueller Impotenz litten, gesellten sich zu den Exhibitionisten auf den Tribünen, und wer sonst nur Mädchen einheizte, machte sich daran, durch packende Reden das Volk mitzureißen, und es fanden eine Menge Leute, die sonst keinen Lebenssinn gehabt und gern für etwas geschwärmt hätten, ihren Platz in der Welt. Für jeden gab es einen Führer nach seinem Geschmack.
Doch als die Revolution im November 1918 auch in Deutschland ausbrach, begann sich das Bürgertum in der Schweiz Sorgen zu machen:
In den gleichen Tagen, an denen die deutsche «Revolution» sich vollzog, wurde der russische Sowjetbotschafter Joffe aus Berlin wegen revolutionärer Umtriebe ausgewiesen. Und an dem gleichen’Tage wies auch die schweizerische Regierung den russischen Botschafter aus der Schweiz aus und ließ gleichzeitig die Stadt Zürich durch den General Wille-von Bismarck militärisch besetzen, um, wie erst später bekannt wurde, einer Revolution vorzubeugen, die man in den schweizerischen regierenden Kreisen als Folge der deutschen Umwälzung erwartete.
Anstatt der Revolution vorzubeugen, löste die Besetzung Zürichs durch die Armee als sprichwörtliches Feuer an der Lunte den Landesstreik aus.
Am 12. November 1918 streikten über 250’000 Arbeiterinnen und Arbeiter in der ganzen Schweiz. Sie forderten die 48-Stunden-Woche, eine Altersvorsorge oder das Frauenstimmrecht. Ihnen gegenüber standen 95’000 Soldaten. Sie waren vom Bundesrat aufgeboten worden, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Gemüter waren erhitzt, die Stimmung angespannt. In Grenchen kam es sogar zu drei Toten.
Brupbacher: Während in Deutschland Bürger, Bauern und Armee allermindestens Gewehr bei Fuß stunden, tobten in der Schweiz Bürger, Bauern und Armee gegen die Arbeiterschaft. Am 9. begann also der schweizerische Generalstreik und endete plötzlich am 14. November auf Befehl des Streikkomitees. Wurde einfach abgebrochen. Es ist schwer zu sagen, ob mit Recht oder Unrecht. Auf alle Fälle war das ein furchtbarer moralischer Schlag für die gesamte Arbeiterschaft, da der Abbruch ganz unvermutet kam ; hatte es doch noch am Tage vorher geheißen, die Sache stehe wunderbar. … Viele Arbeiter zerrissen ihre Partei- und Gewerkschaftsbücher, sprachen davon, daß man auswandem müsse, und wenn sie sagten, «es sei zum Heulen», so war das wirklich keine Phrase, denn mancher heulte wirklich oder hatte doch Tränen in der Stimme.
(Christoph Blocher in einem Referat zu “100 Jahre Generalstreik”:
Wir Nachgeborenen haben allen Grund zur Dankbarkeit gegenüber der damaligen Bevölkerung, den Behörden und den Soldaten. Sie sind festgeblieben und haben den Erpressungen und Rücktrittsforderungen der Linken nicht nachgegeben.)
Noch im Juli 1917 hatte Brupbacher unter dem Pseudonym “Gottfried Schtutz” unter den Soldaten ein Flugblatt in Mundart streuen lassen:
De Zweck vo der Armee ischt nach miner Meinig, die eigetliche Vaterlandsfind, die grosse Herre und ihri Arschläcker am Chrage z’näh, ganz wie zur Zyt vom Tell, Stauffacher, Melchtal und Winkelried. Erscht wämer die Grosse bodiged händ, erscht wänn’s Militär wieder für’s Volk ischt, mach ich mit der Eidgenosseschaft wieder Friede.
Dass die Mühe wohl vergeblich war, musste er bald einmal feststellen, als er als im Juli 1918 als Arzt bei den internierten deutschen Soldaten und Offizieren einberufen wurde. Dass die Offiziere weiter hurrapatriotisch blieben, mochte ja noch angehen. Aber dass von den 700 Soldaten — die meisten aus dem Proletariat — gerade mal ein einziger über den Krieg schimpfte und meinte, man solle die Kriegstreiber alle zum Teufel jagen, — das war eine ernüchternde Erfahrung.
Umso gespannter verfolgte Brupbacher die Entwicklung in Russland, neu in der Sowjetunion:
Man erlebte die Schicksale der Sowjetunion, ganz abgesehen von dem persönlichen Interesse, das man als westeuropäischer Revolutionär hatte, einfach als Freund der Sowjetunion. Dann aber auch als ein Revolutionär, der für sich und den Westen aus den russischen Ereignissen lernen will. Als Freund von Rußland zitterte man, wenn man im Grunde auch den großen Glauben an das Gelingen hatte ; man zitterte für die Erhaltung der Sowjetunion, da sie doch von allen Seiten angegriffen wurde, von Koltschak, Denikin, Judenitsch, den Tschechoslowaken, den Franzosen, den Deutschen, den Engländern und den Japanern, den Polen und von Wrangel.
Man verfolgte aber nicht nur diese Ereignisse, sondern nicht minder alle Veränderungen, die in ökonomischer Beziehung in der Sowjetunion vor sich gingen. Wurde doch das erstemal in der Welt, und dazu noch im größten Maßstabe, der Versuch gemacht, den Sozialismus zu verwirklichen.
Nach der bitteren Erfahrung mit dem “real existierenden Sozialismus” und vor allem angesichts des stalinistischen Terrorregimes braucht es heute eine gute Portion Einfühlungsvermögen, um Brupbachers Enthusiasmus zu verstehen.
Bitter rechnete er mit dem schweizerischen Bürgertum ab:
Ich bin in der Bourgeoisie aufgewachsen. Ich habe sie immer aller Gewalttätigkeiten für fähig gehalten. Sie hat keine Spur von Humanität. Sie wird jederzeit jedes Gesetz mißachten, das den Proleten irgendein Recht gibt. Alles Gerede von Demokratie ist bei ihr Lug und Trug. Sie ist unheilbar erwerbsgierig. Um zu erwerben, ist sie zu allen Schandtaten fähig, fühlt sich berechtigt, alle Schandtaten zu begehen. Sie ist unheilbar. Die einzige Rettung für ihre Seele ist, wenn man ihr alle Macht und alles Eigentum wegnimmt. Bevor ihr alle Macht und alles Eigentum weggenommen ist, ist sie für alle Kultur und Humanität unzugänglich. Zureden nützt nichts. Nur Expropriation nützt. Man darf ihr das Leben lassen, nie Macht und Eigentum. Man muß sie ganz ausschalten von der Teilnahme am Staat bis zu dem Augenblick, wo sie keine Bourgeoisie mehr ist. Bis zu diesem Zeitpunkt soll das Proletariat allein die Besitzerin der Staatsgewalt sein.
Womit wir bei der berüchtigten “Diktatur des Proletariats” angelangt wären. Brupbacher befürwortete sie vollumfänglich, — mit einem entscheidenden Vorbehalt.
Dazu mehr in der nächsten Folge am Samstag, den 13. August
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness