Manès Sper­ber insistiert in sein­er Rückschau auf das jüdis­che Schick­sal im christlichen Europa darauf, dass das höch­ste Ide­al im Juden­tum nicht darin bestand, möglichst viel Macht und Reich­tum zu erlan­gen — ein fes­ter anti­semi­tis­ch­er Topos — , son­dern in der Bil­dung:
Man weiß, daß die jüdis­chen Ärzte auch in der schlimm­sten Zeit der Ver­fol­gung hohes Anse­hen genossen haben. Von ihnen führt ein langer Weg zu den her­vor­ra­gend­sten Forsch­ern des 19. und 20. Jahrhun­derts. Er führt unter anderem auch zur deu­ten­den ther­a­peutis­chen Psy­cholo­gie, der man übri­gens eben­so wie den Tal­mud­is­ten vor­w­er­fen kön­nte, daß sie zuweilen dazu neigt, schlechthin alles, was deut­bar ist, für deu­tungswert und bedeut­sam zu hal­ten.

Ein beson­der­er Umstand erk­lärt zusät­zlich den erstaunlichen großen Anteil der jüdis­chen Intel­li­genz an den Fortschrit­ten mod­ern­er Wis­senschaften. Selb­st in den schlimm­sten Phasen ihres Exils, als nur der Besitz von mobilem Ver­mö­gen die Juden vor der Ver­nich­tung ret­tete — selb­st damals betra­chteten sie nicht den Reich­tum, son­dern die geistige Fähigkeit als höch­stes Gut. Viel später, als die allerärm­sten Juden Europas nach Ameri­ka auswan­derten, um selb­st in drück­enden Ver­hält­nis­sen für ihre Fam­i­lie ein Auskom­men zu sich­ern, da hofften sie zwar, daß ihre Kinder eines Tages wohlhabend, daß sie Fab­rikan­ten oder ange­se­hene Kau­fleute sein wür­den, aber ihr sehn­lich­ster Wun­sch war, daß wenig­stens ein­er ihre Söhne ein »Geis­tes­men­sch«, ein Lehrer, Dok­tor oder gar ein Uni­ver­sität­spro­fes­sor werde. Das blieb in ihren Augen der aller­höch­ste Auf­stieg, damit allein errang man, das wußten sie, den so begehrenswerten »Jichus«, den Adel des Geistes. »Nicht in der Kriegs­macht, nicht in der Gewalt, nur im Geiste spricht Gott«, verkün­dete der Prophet. Daran glaubten alle meine Ahnen. Daran glaubt auch heute noch die achtzig­ste Gen­er­a­tion ihrer Nach­fahren. Und demgemäß hat unser Volk gehan­delt — gewiß nicht alle Zeit, aber oft und zeit­ig genug, um die Siege der Unter­drück­er und die furch­barsten ihrer eige­nen Nieder­la­gen zu über­leben.

Im Anschluss geht Manès Sper­ber auf die Art des Anti­semitismus im Europa des Mit­te­lal­ters und der frühen Neuzeit ein und verneint einen Ras­sis­mus, wie er sich gegenüber “Nicht-Weis­sen” äusserte — und noch äussert. Für ihn ste­ht die religiöse Kom­po­nente ein­deutig im Vorder­grund:
Solange die Reli­gion das Ver­hal­ten der Men­schen in allen Lebensla­gen bee­in­flußte, war für das Ver­hält­nis zu Men­schen ander­er Herkun­ft die Ander­s­gläu­bigkeit bes­tim­mend. Jede Kon­fes­sion präsen­tierte sich als die allein wahre und ver­warf jede andere als het­ero­dox, schis­ma­tisch, ket­zerisch, als ein Werk des Teufels. Daher kam es da nicht auf die Haut­farbe an. Der Ras­sis­mus set­zte ein, als eine priv­iligierte Schicht die ras­sis­che Diskri­m­inierung brauchte, um ihre Macht über ein Volk auszuüben, das mit ihm den Glauben gemein hat­te — so etwa in den chris­tian­isierten Kolonien.

Als spanis­che und por­tugiesis­che Juden zum Chris­ten­tum über­trat­en, sei es aus Überzeu­gung oder um der Ver­fol­gung und Aus­trei­bung zu ent­ge­hen, verdächtigte man sie und ihre Kinder und selb­st Kinde­skinder, heim­lich dem jüdis­chen Glauben treu zu geblieben zu sein. Vom 15. Jahrhun­dert an entwick­elte sich mit Hil­fe der Inqui­si­tion und jen­er Stände, die sich durch die materiellen und gesellschaftlichen Erfolge der Kon­ver­titen, der »Neuchris­ten«, wie man sie abschätzig nan­nte, benachteiligt fühlten, der erste Ras­sis­mus im christlichen Europa. Der Tauf­schein genügte nicht mehr und nicht die kirchen­treue Lebens­führung. Man mußte die limpizia desan­gre, die soge­nan­nte Rein­heit des Blutes, nach­weisen. In der Tat wurde dieser Beweis nur erbracht, wenn kein Doku­ment und kein­er­lei Zeu­gen­schaft den Ver­dacht bestätigte, daß ein noch so fern­er Vor­fahre Jude gewe­sen sein kon­nte. Man fälschte solche Doku­mente, man erkaufte und erzwang solche oder die gegen­teilige Zeu­gen­schaft.

Die Kirche fuhr zwar fort, den Juden das Heil zu ver­sprechen, wenn sie nur die Taufe annah­men, aber die Neuchris­ten und die Mar­ra­nen erfuhren, daß die Taufe keine Ret­tung für sie war. Es erhoben sich in der Chris­ten­heit nur sel­ten Stim­men gegen diese Diskri­m­inierung — so trat Ignazio von Loy­ola offen gegen sie auf, aber nach seinem Tode kon­nten Neuchris­ten keine Auf­nahme in den Jesuitenor­den find­en.

Diese religiöse Kom­po­nente der Ablehnung des Juden­tums im Chris­ten­tum  ist heute wieder aktuell, dies­mal allerd­ings mit umgekehrtem Vorze­ichen: Während die Katholis­che Kirche sich 1965 im Zweit­en Vatikanum durchrang, den Vor­wurf des “Gottes­mordes” der Juden, der soviele Pogrome aus­löste (oft als Vor­wand), defin­i­tiv fall­en zu lassen und einen Dia­log auf Augen­höhe zu ini­ti­ieren, hat sich seit Län­gerem eine unheil­volle Allianz gebildet zwis­chen evan­ge­likalen Grup­pen v.a. in den USA und (rechts-)radikalen jüdis­chen Kreisen in Israel, — bei­de vere­int in der Bewun­derung Don­ald Trumps, dem neuen “König Cyrus”. Man darf auf die weit­ere Entwick­lung ges­pan­nt sein.

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 29. Novem­ber.

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