Auch nach der Kapitulation kam es noch lange nicht zur Demobilisierung. Sperber schildert eine eindrückliche und berührende Szene, als er nach dem Eintreten des Waffenstillstands nach einer regnerischen Nacht in einem kleinen Städtchen auf einer steinigen Strasse einschlief:
… die Türen und die Fensterläden waren geschlossen, die Einwohner schliefen noch; wir ließen uns auf der steinigen Straße nieder. Diesmal konnte ich endlich schlafen wie alle anderen, wir brauchten nun keine Wache mehr. Alles war zu Ende.
Ein warmer Hauch und flüsternde Stimmen weckten mich; widerwillig, mühsam öffnete ich die Augen. Zwei Frauen, eine ganz junge und eine alte knieten neben mir, ihre Gesichter berührten fast meine Stirne. Ich begriff nicht recht, was sie wollten, und sagte: »Ich schlafe, ich muß schlafen.« Sie hoben mich sachte vom verregneten Boden, nahmen meine Sachen und führten mich in ein Haus. Die Alte zeigte mir ein Bett, es war sauber. Ich bat, sie sollten mich doch in der Scheune schlafen lassen, denn ich hatte keine Kraft, mich auszuziehen, und meine Uniform war schmutzig und steif vom Regen. Nach einigem Zögern brachte sie mich in einen Kuhstall, es duftete darin wie von frischem Heu, ich ließ mich fallen. Die junge Frau eilte herbei, die Alte half mir und richtete mich halb auf, ich trank die heiße Milch und legte mich wieder hin.
Einige Stunden später fanden mich Kameraden, sie weckten mich, denn wir sollten weitermarschieren. Ein berittener Offizier hatte sich eingestellt, ein Unteroffizier begleitete ihn, wir standen wieder unter Befehl. Ich suchte hastig nach den Frauen, aber sie waren nicht im Haus und auch nicht im Gemüsegarten.
Wenn ich pessimistische Äußerungen über Menschen höre, tauchen diese zwei ungleichen Gesichter manchmal auf, hinter ihren Augen mühsam zurückgehaltene Tränen des Mitleids mit dem Fremden, der auf einer steinigen Landstraße den Schlaf suchen mußte. Sie haben mich, sind Sle noch am Leben, wahrscheinlich längst vergessen. Aber seit jenem Morgen sind sie im Zeit-Raum meines Lebens beheimatet und werden darin bleiben bis, ja bis man mir Scherben auf die Augen legen wird.
In einem meiner Romane sagt ein jugoslawischer Partisan! »Grausamkeit ist ansteckend.« Ihm antwortet jemand: »Nicht nur sie, auch Güte, Großmut sind ansteckend. Ebenso der Mut und die Feigheit… Was die Grausamkeit betrifft, ich glaube nicht, daß sie tiefer ist als das Mitleid, und sie ist unwichtiger als die Liebe und selbst als das Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Wäre es anders, so würden viele von uns nicht mehr leben, zum Beispiel ich, zum Beispiel du.«
In der Provence kam es zu einem kleinen Wunder: Seiner neue Lebensgefährtin Jenka war es nach der Flucht aus Paris gelungen, den Aufenthaltsort von Sperber herauszufinden. Am 17. August war es soweit: Demobilisation! Doch wohin in einem verwaschenen alten Drillich-Anzug und ohne Geld? Während eines kurzen Aufenthalts in Marseille, um sich nach Ausreisemöglichkeiten zu erkundigen, traf Sperber völlig überraschend auf seinen alten Freund Arthur Koestler:
Er trug genau die gleiche Uniform eines Legionärs, die ich einen Tag vorher endlich abgelegt hatte. Um sich zu retten, hatte er sich zur Fremdenlegion gemeldet und war in einer Kaserne stationiert, von wo er mit anderen Rekruten nach Afrika verschickt werden sollte. Sein Plan war überaus gewagt, doch klug; dank ihm schlug er sich von Afrika über Portugal nach England durch. Als wir uns beim Abschied umarmten, tat er mir unaussprechlich leid. Er seinerseits dürfte für mich das Schlimmste befürchtet haben. “Arrival and Departure”, einen noch während des Krieges erschienenen Roman, widmete er mir im Zweifel, ob ich noch am Leben wäre: »To Munio if he is still alive«. Wir sollten einander erst fünfeinhalb Jahre später Wiedersehen.
Wenige Stunden nach dieser Begegnung fuhren wir nach Cagnes sur Mer. Es blieb uns gerade genug Geld, um die relativ kurze Reise zu bezahlen und während einiger Tage den Unterhalt zu bestreiten. Wir hatten so gut wie gar kein Gepäck und bescheidenste Hoffnungen, die sich schnell als unbegründet erwiesen. Von der Hand in den Mund zu leben, das sollte möglich sein, im Materiellen gewiß, aber auch im Seelischen. »Wer dürfte sagen, schlimmer kann’s nicht werden .. «
Cagnes sur Mer wurde zu einem Refugium, weil sie — solange sie sich nicht offiziell anmeldeten — von den Behörden unbehelligt blieben. Doch unter dem Vichy-Regime begannen im Sommer 1942 auch in den nicht besetzten Gebieten Festnahmen und Deportationen.
Einige Wochen später begannen die Festnahme und die Verschickung der nicht in Frankreich geborenen Juden. Pétain und Laval befahlen diese Deportation in den Tod wenige Wochen, nachdem die Deutschen die »Aktion« im besetzten Teil des Landes mit äußerster Energie in Gang gebracht hatten. In den dunkelsten Kellern, in den verstecktesten Winkeln der Dachböden suchte man Juden, besonders ihre Kinder, die sich da versteckt hielten. Laval bestand darauf, daß man diese gleichzeitig mit ihren Eltern deportiere.
Außer den deutschen Spezialisten beteiligten sich französische Milizionäre und Polizisten an dieser Jagd auf die wehrlosesten aller Opfer. Da das Vichy-Regime der lokalen Polizei mißtraute, setzte es die sogenannte Staatspolizei ein, die darauf achtete, daß die Gemeindepolizisten keine Gelegenheit fänden, die Gesuchten zu warnen. Die Namenslisten waren vorher in den Präfekturen angefertigt worden, alle waren im Netz gefangen, es galt nur noch, sie zu holen. Wer Geldmittel und falsche Papiere hatte, versuchte, sich über die spanische oder die Schweizer Grenze zu schmuggeln. In Spanien riskierte man Gefängnis oder Internierung, aber nicht die Auslieferung. In der Schweiz jedoch wurden Flüchtlinge an die Grenze zurückgebracht.
Sperber war inzwischen Vater eines Sohnes, Dan, geworden. Zuerst versuchte er sich so gut wie möglich zu verstecken:
Im Garten unterhalb unseres Hauses in Cagnes gab es einen Pavillon, der seit Ausbruch des Krieges verschlossen geblieben war. Dort verbrachte ich die Nächte, denn die Polizisten kamen gewöhnlich vor Tagesanbruch. Man konnte hoffen, daß diese Menschenjäger, fanden sie mich nicht im Haus, mich nicht im unbewohnten Pavillon suchen würden. Jenka schien durch das Baby geschützt; in der sogenannten »freien Zone« Frankreichs deportierte man damals die Mütter von Kleinkindern noch nicht. Fragte man sie nach mir, so sollte die Antwort lauten, daß ich mich seit Wochen davongemacht und alles im Stich gelassen hätte. Daß diese Auskunft die Häscher befriedigen würde, war wenig wahrscheinlich, aber ich hatte keine bessere Möglichkeit, mich ihrem Griff zu entziehen.
Doch schliesslich wurde die Entdeckungsgefahr zu gross. Sperber entschloss sich zur Flucht in die vom Krieg verschonte Schweiz. Jenka und sein Söhnchen sollten ihm später nachfolgen.
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 8. August
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz / Christentum und Gnosis / Helvetia — quo vadis? / Aldous Huxley / Dle WW und die Katholische Kirche / Trump Dämmerung / Manès Sperber /Reinkarnation

