Sper­ber macht deut­lich, dass eine Dik­tatur ohne die Mitar­beit oder die Pas­siv­ität eines sub­stantiellen Teils der Bevölkerung nicht möglich ist. Hier ein paar weit­ere Auszüge aus sein­er Schrift “Zur Analyse der Tyran­nis”, die das verdeut­lichen.

Der Dem­a­gog (das ist in unserem Falle der zukün­ftige Tyrann) appel­liert an den Affekt. … 
Er spricht aus, was sie (frus­tri­erte Bürg­erin­nen und Bürg­er) sagen möcht­en, wenn sie reden kön­nten, und er spricht es ger­ade in der Art aus, die dem Ide­al der Zuhör­er genau entspricht. Wer auf das Ressen­ti­ment spekuliert, kann nicht fehlge­hen. Der All­t­ag erzeugt in den sozusagen alltäglichen Men­schen ein unge­heures und sich unun­ter­brochen steigern­des Ressen­ti­ment. Was auch immer es enthält, es ist seinem Wesen nach mit einem Ohn­machts­ge­fühl, einem über­steigerten Min­der­w­er­tigkeits­ge­fühl iden­tisch.
In dem Ressen­ti­ment steckt die Ten­denz, diejeni­gen zu über­winden, die an der Ohn­macht schuld sind, das­jenige zu zer­stören, gegen das nur das Gefühl der Ohn­macht, aber keine über­windende Kraft sich erhebt. Dieses soziale Ressen­ti­ment, dur­chaus indi­vidu­ell emp­fun­den, müßte kom­pen­siert wer­den. Der einzelne kann es nicht, denn hier geht es um Beziehun­gen, an denen er nur teil­hat, von denen er bes­timmt wird, die er allein nicht verän­dern kann. Gegenüber einem Lei­den, gegen das man nicht ankämpfen zu kön­nen meint, wird man leicht wun­der­gläu­big. Man wartet darauf, daß ein­er ein Wun­der tue, durch das das Lei­den beseit­igt würde. Der mes­sian­is­che Gedanke in sein­er ursprünglichen Fas­sung enthält nichts anderes. Die nicht selb­st kom­pen­sieren, erwarten, daß es ein­er für sie tue. (…) Das große Heer jen­er, von denen Wahrsager aller Art leben, ist zusam­menge­set­zt aus Men­schen, die auf die Änderung ihrer Sit­u­a­tion warten und sel­ber nichts tun, damit sie erfolge.

Das ist eine inter­es­sante Beobach­tung, ger­ade im Hin­blick auf Don­ald Trump, den Evan­ge­likale als einen von Gott auser­wählten Ret­ter vor Sozial­is­mus, Woke-ismus, LGBTQ, Fem­i­nis­mus und ille­gal einge­wan­derten Bösewicht­en feiern.
Ob die ursprüngliche Fas­sung des mes­sian­is­chen Gedankens lediglich die Flucht in illu­sorisches Wun­schdenken gewe­sen sei, wie Sper­ber insinuiert, stellt der birsfaelder.li-Schreiberling allerd­ings in Frage. Mes­sian­is­mus kann eine gewaltige Wider­stand­skraft gegen nieder­drück­ende poli­tis­che Struk­turen erzeu­gen. Man denke etwa an Mas­sa­da oder das Täu­fer­re­ich in Mün­ster.

Doch weit­er mit Manès Sper­ber:
Ein brauch­bares soziales Selb­st­be­wußt­sein des einzel­nen, ist es für ein ganzes Volk charak­ter­is­tisch, stellt ein starkes Abwehrmit­tel gegen den Zauber des Dem­a­gogen und gegen die Tyran­nis dar. Solch ein Volk han­delt. Je mehr ein­er han­delt und verän­dert, umso weniger braucht er Wun­der. Je weniger ein­er Wun­der braucht, umso weniger erwartet er sie. Und nur wer Wun­der erwartet, glaubt an sie.

Und dann fol­gt ein inter­es­san­ter Hin­weis. Sper­ber sieht einen frucht­baren Boden für die Entste­hung ein­er Tyran­nis, wenn ein Volk aus Grün­den, die der Sozi­ologe zu unter­suchen hat, in eine bedrän­gende Not gerät … . Also dann, wenn eine schwere Krise das Ende ein­er Entwick­lungsphase anzeigt und die Notwendigkeit ein­er neuen Entwick­lungsphase, vielle­icht gar ein­er neuen Epoche anzeigt, die Kräfte aber, dieses Neue durch die Über­win­dung des Alten zu schaf­fen, nicht aus­re­ichen. Unter diesem Gesicht­spunk­te wäre die Tyran­nis eine inter­mez­zo­hafte Episode zwis­chen zwei Phasen geschichtlich­er Entwick­lung.

Vielle­icht befind­en wir uns heute in ein­er solchen tief­greifend­en Umbruch­sphase. Man darf ges­pan­nt sein …

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 21. Juni

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Das isch dr kupfrig Stänzler gsii
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