In der Folge ging Sperber darauf ein, welche Folgen die intensive Auseinandersetzung mit dem Tanach und dem Talmud über die Jahrhunderte auf die Entwicklung des Judentums hatte:
Die offenbarte und die später überlieferte Lehre durfte keinem Zweifel ausgesetzt werden, gewiß; aber jedes Wort barg in sich so viel mehr als den Inhalt eines Wortes — etwa so wie das Saatkorn in sich die kornreiche Ähre birgt. Wie das Erdreich, so nimmt der Forschende das Wort auf, ihm enthüllt es das Ungesagte, immer tiefer schürfende Einsichten, denn das Wissen genügt nicht, man bleibt bei ihm nicht stehen, man geht von ihm aus, um verstehen zu lernen.
Diese Fähigkeit, verschiedene Bedeutungsebenen der heiligen Schriften zu erfassen, wurde vor allem von den Mystikern der Kabbala gepflegt: Jedes Wort, jeder Satz enthält eine wörtliche (peshat), eine allegorische (remez) Bedeutung, die Bedeutung im Leben und letztlich eine mystische (sod).
Der Historiker Arnold Toynbee wußte, daß die Juden während einer sehr langen Zeit, Generation nach Generation, beinahe nur die eigenen religiösen Werke studiert und kommentiert hatten, und sah darin den Beweis für die hoffnungslose Sterilität, in der ihr Geist Jahrtausende verharrte. Toynbee wußte, aber er verstand nicht, daß es eine der bedeutendsten Leistungen der jüdischen Hermeneutik innerhalb der allerdings unabänderbar gesetzten Grenzen war, alles Biblische zu durchforschen. Die Deutung bezog das überkommene, aber auch das neue Wissen ein, allerdings ohne ihm eine rein weltliche Ausdrucksform zu verleihen.
War die Begegnung mit dem Griechentum im dritten vorchristlichen Jahrhundert unter besonders ungünstigen Bedingungen erfolgt, so wurde sie später intellektuell weitaus ergiebiger. Im Werk des jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien kündigte sich eine mögliche Verbindung oder gar eine Verschmelzung des Judaismus mit einem von Polytheismus befreiten Hellenismus an, die viel später in der christlichen Zivilisation fruchtbar werden sollte. Für Philo gab es über die trennenden Jahrhunderte hinweg einen möglichen Dialog zwischen Sokrates und den bibeltreuen Denkern. Dieser Dialog ist erst zwischen den späten Nachfahren zustande gekommen, doch hat er den trennenden Abstand zwischen ihnen nur geringfügig und nur zeitweilig verringert.
Je unerträglicher das Leben in der Diaspora wurde, um so unabweisbarer drängten sich Fragen auf, die am Ende nur eine mystische Lehre beantworten konnte. Wenn Gott allmächtig ist, dann ist er auch für alles Übel verantwortlich, das uns, seinem auserwählten Volke, angetan wird. Ist er gerecht, warum läßt er es geschehen? Warum bestraft er uns und läßt den Frevler ungestraft nach Willkür walten? (…)
Der Monotheismus … proklamiert zugleich die göttliche Allmacht und die menschliche Verantwortung. Die Heiden suchten in den Gedärmen von erlegten Tieren Zeichen, die ihnen das Geheimnis ihres Schicksals enthüllen sollten. Aber das Fundament des jüdischen Glaubens ist nicht das Fatum, sondern die Gerechtigkeit, auch im Verhältnis zwischen Gott und seinen Geschöpfen; sie ist der Pfeiler, auf dem die Welt beruht und ohne den sie zusammenbrechen und zunichte werden müßte. Daher blieb das Exil nur erträglich, sofern man für jede Pein und für jede Plage eine Deutung fand, die Gott gleichsam entlastete. Zu solcher Versöhnung verhalf nur ein wendiger Verstand, ein flinker Scharfsinn und eine Kunst der Deutung, dank der ein unbestreitbarer Sachverhalt, ohne bezweifelt zu werden, zu einem mehrdeutigen Hinweis zusammenschrumpfte und schließlich nur noch als warnende Anspielung in Betracht gezogen wurde.
Es ist kein Zufall, dass die Pioniere der Psychoanalyse - Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Alfred Adler, Theodor Reik, Erich Fromm, und andere mehr — einen jüdischen Hintergrund hatten:
Bis 1907 hatte die Psychoanalytische Gesellschaft ausschließlich jüdische Mitglieder. Die Ablehnung, auf die Freuds Entdeckungen stießen, und der Antisemitismus, mit dem er konfrontiert war, führten dazu, dass er seine Lehre zu einer Bewegung formte, die eng zusammenhalten musste und große Probleme mit „Abweichlern“ hatte. Inhaltlich rekurriert die Psychoanalyse auf das reiche Erbe der jüdischen Kultur: die Mission, das Unbekannte, Mystische, Unbewusste durch Rationalität zu durchdringen; die Technik der freien Assoziation; die Faszination an der Macht des Wortes; die am Talmud geschulte Technik der Auslegung; die nie endende Suche nach Erkenntnis; das freie Denken innerhalb eines sehr strikten Regelwerks. (Auszug aus einem Artikel in der Zeitschrift Nu)
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 15. November
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