Bevor wir uns in der nächsten Folge wieder Manès Sperber selber zuwenden, der 1937 zutiefst desillusioniert vor den Trümmern seiner Ideale stand, hier ein letzter Auszug
aus seinem Essay “Zur Analyse der Tyrannis”, in dem er Bilanz aus seinen gewonnenen Einsichten zog. Es sei den geneigten Leserinnen und Lesern überlassen, die eine oder andere Parallele zur heutigen politischen Landschaft zu ziehen …
Für die Macht spricht nichts so sehr wie sie selbst. Die Macht als Argument überzeugt, ehe sie von der Gewalt, die ihr zur Verfügung steht, Gebrauch machen muß. Nicht nur, weil die Macht dem gefährlich ist, der ihr Feind ist, gewinnt sie am Anfang so viele Freunde, sondern auch deshalb, weil sie fasziniert. Ein großer Teil der früheren Gegner des Tyrannen werden seine aufrichtigen Freunde von dem Augenblick an, da er die Macht hat. Sie denken: Wenn dieser Mann wirklich ein solch gewaltiger Kerl ist, daß er es zustande gebracht hat, die Macht zu erobern, dann gebührt sie ihm auch. Dann sind seine Fähigkeiten, die wir leider bisher verkannt haben, außerordentlich. Einem Mann, der das zustande gebracht hat, trauen wir auch zu, daß er die Wunder tun wird, die er versprochen hat.
Der Start des Tyrannen läßt sich also sehr gut an. Er schlägt seine Feinde nieder und erschreckt damit die Schwankenden. Die nicht ganz entschiedenen Gegner schreckt er zurück, und alle, die in der Mitte stehen, gewinnt er für sich wie im Sturm. Die Führer seiner Gegner rufen das Volk zum Widerstand auf, verweisen auf die Verbrechen, die der Tyrann schon in den ersten Tagen seiner Herrschaft begangen hat, und müssen darüber staunen, wie wenig Gehör sie finden. Sie staunen aus Unwissenheit über das Wesen der Macht und über die Wirkungen der Macht. Indes sie, um die Feindschaft gegen die Tyrannis zu steigern, auf das Blut, mit der sie sich bedeckt hat, verweisen und die Erbarmungslosigkeit, mit der die neuen Herren vorgehen, laut denunzieren, machen sie sogar selber, natürlich ohne es zu wissen, für die neue Macht Propaganda. Denn, so sagen sich Millionen, wenn es so gefährlich ist, auch nur das Geringste gegen diese Macht zu tun oder zu sagen, dann wollen wir uns beeilen, alles zu ihrem Lobe und zu ihrem Ruhme zu sagen.
Die Macht herrscht durch den Schrecken. Der Schrecken hat wenigstens im Anfang Erfolg. Um ihn zu behalten, muß der Schrecken allerdings gesteigert werden. Eine Macht, die mit dem Schrecken begonnen hat, darf auf ihn nie mehr verzichten, oder sie ist verloren. Mit dem Schrecken macht man keine Kompromisse. Das wußten manche Tyrannen, und andere, die es nicht wußten, gingen etwas früher zugrunde, als sie es ohne die Kompromisse gemußt hätten. Schlechte Erzieher wissen, daß sie Kinder an sich binden können, indem sie sie in Schrecken versetzen. Der Schrecken stößt also nicht nur ab, er zieht auch an. Doch ists mit ihm wie mit einem Gifte. Um gleiche Wirkungen zu erzielen, muß man seine Dosen fortgesetzt erhöhen.
Der Tyrann ist gut darauf vorbereitet, durch den Schrecken zu herrschen. Ihm imponiert ja der Schrecken selber. Er würde am liebsten selber mitzittern wollen in jenem Augenblicke, in dem er brüllend droht: Alle werde ich zertrümmern. Der große Augenblick seines Lebens ist erreicht. Es geht darum, diesen Augenblick ein Leben lang auszudehnen. Damit dies geschehe, darf es keine Feinde geben. Aber es gibt Feinde. Wie viele auch immer man vernichten sollte, man hat immer zu wenige vernichtet. Die Väter, die Brüder, Söhne und Freunde der Vernichteten, sind sie nicht zu fürchten? Und vernichtete man diese, auch sie haben Väter, Söhne, Brüder, Freunde. Hinter jeder Reihe Ermordeter erhebt sich eine neue Reihe von Feinden, die nicht leben dürfen, soll das eigene Leben gewahrt und gesichert bleiben. (…).
Mächtig ist die Tyrannis. Sie braucht vor keinem Schrecken zurückzuschrecken. Doch alle ihre Macht versagt vor dieser Grenze: vor den geheimen Gedanken, der Gefährlichkeit der geheuchelten Zustimmung und der geheimen Kritik. »Oderint, dum metuant!« — mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten, sagt der Tyrann. Doch er bleibt nicht dabei. Man kann durch den Appell an den Haß zur Macht kommen, man kann sich eine Zeitlang gegen ihn halten, aber es ist schwer. Seltsam, der Tyrann und die Tyrannis, sie haben es nötiger als irgendeine andere Herrschaftsform, anerkannt, ja, geliebt zu werden. So ist der Tyrann eifersüchtig auf die Gedanken wie ein von der Natur benachteiligter Ehegatte einer schönen Frau. Der Tyrann geht darauf aus, die Liebe zu erzwingen. Millionenchöre sollen ihm einstimmig zujubeln: Wir lieben dich. Doch diese Chöre böten keine Befriedigung, denn der Tyrann müßte ja doch daran denken, daß es unter diesen Millionen einen gibt, der zwar die Lippen bewegt, als ob er sänge, der aber nicht singt und nicht jubelt, sondern vielleicht nach dem Leben des Bejubelten trachtet. Dieser Eine — und der Tyrann weiß, es ist nicht einer, es sind viele — verdunkelt das Licht, in das die Millionen den Tyrannen zu stellen scheinen. Und der Tyrann weiß: Solange es diesen Einen gibt, ist seine Tyrannis gefährdet, so lange darf er nicht ruhig schlafen. (…)
Das totalitäre Regime arbeitet stets mit der ultima ratio. Es macht aus jeder Frage eine Frage auf Leben und Tod. Wie außerordentlich, wie über alle Maßen heldenhaft müßte ein Freundschaftsbündnis sein, damit es solcher Alternative standhalten könnte. Der Charakterverderb jedes einzelnen ist ungeheuerlich von dem Augenblicke an, da es lebensgefährlich ist, anständig zu sein, da grundsätzliche Spielregeln über den Haufen geworfen worden sind, da Verrat zur Treue, Lüge zur Wahrheit und Ehrlosigkeit zur Ehre gestempelt wird. Der Mord am Unschuldigen ist gewiß eine Schande an der Menschheit, doch wahrscheinlich eine geringere Schande als die Depravierung der Lebenden. Die Tyrannis darf umso lauter ihre Ehre und ihren Ruhm preisen, je gründlicher ihr diese Depravierung gelingt. Aber vermag das alles dem Regime ein Gefühl der Sicherheit zu geben? Kaum, denn was sollte man von Treuegelöbnissen Depravierter halten? Wie unvorsichtig, wie lebensgefährlich dumm müßte einer sein, der an die Treue dessen glaubte, der bereit ist, jeden zu verraten, von jedem abzurücken, sobald es gefährlich wird, zu ihm zu stehen.
(alle Auszüge aus dem Kapitel “Die Gewaltherrschaft”)
Was Manès Sperber damals 1937 die letzten Illusionen über das Regime Stalins raubte — die Welle der Schauprozesse mit ihren unfassbaren Lügengebäuden -, hat der britische Historiker Robert Conquest in seinem dicken Wälzer “Der Grosse Terror. Sowjetunion 1934–1938″ eindrücklich geschildert. Erstaunlich, wie treffend Sperber hier den Charakter der Stalin’schen Gewaltherrschaft schildert.
Fortsetzung am Samstag, den 12. Juli
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