Das Programm der “antireaktionären Gesellschaft” von Brupbacher ist im ersten Artikel zusammengefasst:
§1. Ein möglichst erträgliches Zusammenleben mit den Menschen ist nur möglich, wenn diese in religiösen, wissenschaftlichen, politischen, sexuellen, ethischen Fragen, intellektuelle, auf Basis der reinen Erfahrung gewonnene Ansichten haben.
Das verlangte gemäss § 7 ” … die 1. Zerstörung des religiösen und alles anderen autoritativen Köhlerglaubens einerseits, 2. andererseits die Einrichtung einer solchen Erziehung des Menschen, die auf rein wissenschaftlicher Basis beruht und nicht verfälscht ist durch egoistisch tendenziöse Zutaten, die Kirche, Staat, Lehrer niederer und höherer Art etc. hinzufügen.
In der ersten Nummer gab er der Hoffnung Ausdruck, … dass noch mehrere Leute in meinem lieben, armen, innerlich so unfreien Vaterländli sich finden, die Glut, Geist und Wahrheitsliebe genug besitzen, mit uns den Kampf aufzunehmen gegen all den Unsinn einer vorsintflutlichen Bourgeoisweltanschauung und für eine allgemein menschliche, durch wissenschaftliche Kritik gereinigte Betrachtung der Dinge.
Die Hoffnung wurde enttäuscht. Nach vier Nummern stellte die “Junge Schweiz” ihr Erscheinen schon wieder ein. Inzwischen war aber sein Wille, sein Leben dem Sozialismus zu widmen, so erstarkt, dass er beschloss, im Aussersihl — damals eine trostlose Gegend mit öden Mietskasernen und Hinterhöfen — als Arbeiterarzt zu wirken, mit einem Betriebskapital von 40 Franken:
Mit meinen 40 Franken ließ ich mich mitten im Proletarierviertel nieder — ich mietete zwei Zimmer bei einem Holzarbeiter, dessen Frau als Aussteuer ein Plüschameublement mitbekommen hatte, das den Schmuck meines Wartezimmers bildete. Das zweite Zimmer war Sprechzimmer und Schlafzimmer für den Arzt. Als Frühstück und Abendessen ließ ich mir von meiner Hausfrau Milch und Brötchen geben, und zu Mittag aß ich in einem Proletenwirtshaus, wo man für 80 Rappen eine Suppe, ein Fleisch und ein Gemüse an einem gemeinsamen Mittagstisch bekam, samt der dazugehörigen Unterhaltung. Und nun wartete ich auf meinen ersten Patienten. Er kam am dritten Tag. Es war ein Säufer mit einer Lungenentzündung — er starb am sechsten Tag, trotzdem ich noch einen Professor konsultierte. Mit Ausnahme der Flöhe, die mein Plüschameublement beherbergte, fanden sich Lebewesen in den nächsten Tagen nicht ein.
Zwar tröpfelten dann doch immer mehr Patienten in die Praxis, aber der Schock zwischen seinen idealistischen Vorstellungen, das sozialistische Heil zu predigen, und der vorgefundenen Realität war gewaltig. Enttäuscht schrieb er in einem Brief:
Du machst Dir überhaupt keine Vorstellung von der Laxheit, Dummheit, Schlechtigkeit und vom Alkoholismus unserer Arbeiter. Mit dem Proletariat kann man nicht sympathisieren, vom dem ist nichts zu hoffen. Ansätze zu Besserung sehe ich keine. Ich lebe jetzt unter den Leuten und mit stehen die Haare zu Berge. Ich sehe, wie unser höchstes und nächstes Ziel der Achtstundentag sein kann und mehr nicht — alles andere predigt man tauben Ohren.
Doch dann begann er dank seiner Hausbesuche die Lebenssituation in der Arbeiterschaft besser zu verstehen:
Das Quartier, in dem ich arztete, war eines der ärmsten der Stadt. Und der Beginn meiner Tätigkeit fiel gerade in eine Zeit größter Arbeitslosigkeit. Da sah man viel Elend. In jenen Zeiten hatten die Leute auch noch viel mehr Kinder als heutzutage. Und je ärmer sie waren, um so mehr Kinder hatten sie. Wenn man an den Winterabenden seine Besuche in den Arbeiterwohnungen machte, so lag gewöhnlich die ganze Gesellschaft im Bett in der Dunkelheit, um Heizung und Licht zu ersparen.
Und mit dem Verständnis wuchs die Zuneigung:
Meine Patienten liebte ich meist sehr. Ganz besonders die Kinder. Sie liefen mir an allen Ecken und Enden nach. Es war in diesen Proleten etwas, das einen anzog. Sie waren anders als die Bürger. Vielleicht wären die meisten auch gern solide, brave Bürger gewesen ; aber sie waren es eben nicht. Sie waren natürlicher, menschlicher, gewiß keine Engel, aber eben keine Erwerbsautomaten. Sie lebten entweder im Elend oder recht bescheiden. Was sie sich wünschten, war Brot und Heim und ein bißchen Glück, fast im Sinne der Epikuräer; ihre Seele war keine kleinliche Erwerbsseele, war nicht ausgefüllt von Renditegedanken. In meinem Quartier ganz besonders nicht.
Und die Zuneigung blieb nicht einseitig:
Meine Proleten wählten mich schon sechs Wochen nach meiner Niederlassung in den Gemeinderat. An dem Tag meiner Wahl bestand mein ganzes Barvermögen aus zehn Rappen und reichte nicht aus, mir bei dieser festlichen Angelegenheit einen schwarzen Kaffee zu spendieren. Ein anderes Mal verkaufte ich mein Thermometer, um meine Barschaft zu vergrößern, da mir das Sanitätsgeschäft den neuen, zum Betrieb nötigen, auf Kredit vorschoß. Wieder ein anderes Mal sprachen mich auf der Straße zwei Genossen an ; sie hatten Reisegeld nötig, um Arbeit zu suchen in einer etwas abgelegenen Ortschaft. Ich sah in mein Portemonnaie, frug, was sie nötig hätten und gab ihnen von dem vorgefundenen Geld Fr. 3.80, worauf mir noch 40 Rappen übrig blieben.
Die Zuneigung machte auch vor seiner Sonntagshose nicht halt, wie diese kleine Szene aus einem Hörspiel über Brupbacher von SRF aus dem Jahre 1986 zeigt 🙂 :
Doch nicht nur die “Proleten” hatten Brupbacher für sich entdeckt, auch die Sozialdemokraten griffen noch so gerne auf diesen jungen und dynamischen Arzt zurück. Und ehe er sich’s versah, sass er in den verschiedensten Gremien:
Seine Wahl zum Mitglied des Grossen Stadtrates — er erhielt fast am meisten Stimmen, mehr als alle biirgerlichen Kandidaten seines Wahlkreises — war aber erst ein bescheidener Anfang Noch im selben Jahr wurde er Mitglied der Zentralschulpflege und der Armenpflege, Leiter der Agitation fiir den Bau des Volkshauses, Mitglied des Verwaltungsrates sowie der Geschäftsprüfungs- und der Redaktionskommission des “Volksrechts”. Gleichzeitig kamen von allen Seiten, vor allem Gewerkschaften, Anfragen für Agitationsreferate. Bald lebte er nur noch im Terminkalender: “Die nächste Woche jeden Tag mindestens eine Sitzung. Manchmal zwei pro Tag. Schulpflege, Fraktion, Vereine, Kommissionen, Vorträge — wirklich eigentlich keine Zeit zum Leben. (Lang)
Damit brachen auch schon die ersten Konflikte auf, die ihn sein ganzes Leben begleiten würden. Darauf gehen wir in der nächsten Folge
am Samstag, den 19. Februar ein.
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