Wenn wir heute von Sozial­is­mus sprechen, ist die gedankliche Verbindung zum Chris­ten­tum — abge­se­hen von der südamerikanis­chen Befreiungs­the­olo­gie — wenn über­haupt, nur am Rande vorhan­den. Allzu oft standen sie sich ger­adezu diame­tral gegenüber.
So erk­lärten sich die Anar­chis­ten im Spanien der Zwis­chenkriegszeit als radikale Kirchengeg­n­er, während die katholis­che Kirche Spaniens, die seit jeher die Inter­essen der Gross­grundbe­sitzer vertreten hat­te, den Mil­itär­putsch des Gen­er­al Fran­co begrüsste und sich sofort als wichtiger Pfeil­er in seine Dik­tatur einord­nete.
Die franzö­sis­che Rev­o­lu­tion, die im Wesentlichen soziale Ursachen hat­te, zer­störte auf immer das enge Band zwis­chen Kirche und Staat in Frankre­ich. Und dass die Bolschewi­ki nach der Machtüber­nahme sofort einen rabi­at­en Feldzug gegen das ortho­doxe Chris­tenum in Rus­s­land in Gang set­zten, ist bekan­nt.

Leon­hard Ragaz glaubte den Grund dafür zu ken­nen:
Diese tragis­che Grund­tat­sache kann man so for­mulieren, dass in unserem fes­tländis­chen Kul­turkreis alle vor­wärts­drän­gen­den Bewe­gun­gen, alle Bewe­gun­gen, die auf poli­tis­che, soziale und kul­turelle Weltverän­derung, auf Frei­heit, Gle­ich­heit und Brüder­lichkeit abziel­ten, um mit Bedacht diese Losun­gen der franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion zu gebrauchen, alles Rin­gen um Recht, Wahrheit, Demokratie, bessere Gemein­schaft, sich gegen das offizielle Chris­ten­tum wen­den mussten, weil dieses, im grossen und ganzen gese­hen, sich zuerst schon gegen sie gewen­det hat­te. Durch diese Tat­sache ist der tragis­che Riss in unsere Gesellschaft gekom­men, aus dem Ver­häng­nis über Ver­häng­nis quillt …

Die entschei­dende Ursache für diesen Riss, der bis heute nicht ver­heilt ist, sah Ragaz im grossen Bauernkrieg 1525. Erin­nern wir uns: Als Mar­tin Luther seine Schrift “Von der Frei­heit eines Chris­ten­men­schen” veröf­fentlichte, fand sie dank der Buch­druck­erkun­st innert kürzester Zeit eine gewaltige Ver­bre­itung, — ins­beson­dere bei jenen, für die “Frei­heit” bis anhin ein Fremd­wort gewe­sen war: den Bauern. Diese fan­den zum ersten Mal religiöse Unter­stützung und Ermäch­ti­gung für ihre Forderun­gen nach sozialer Gerechtigkeit an die Her­ren.
Damals waren Chris­tus und das Volk eins. Die Bauern, die damals das nach seinem heili­gen Recht begehrende Volk darstell­ten, sie tru­gen auf ihren Fah­nen neben dem Bund­schuh, dem Zeichen ihrer sozialen Forderung, das Bild des Gekreuzigten, als Sinnbild der religiösen Begrün­dung dieser Forderung. Sie hat­ten in der Bibel, die ihnen Mar­tin Luther in die Hand gegeben, das Evan­geli­um von der freien Gotte­skind­schaft und der Brud­er­schaft der Kinder Gottes gele­sen und zogen daraus mit gläu­bigem Enthu­si­as­mus die notwendig­sten und selb­stver­ständlichen Fol­gerun­gen für das poli­tis­che und soziale Leben.

Es lohnt sich, wieder ein­mal den Blick auf die berühmten Zwölf Artikel zu wer­fen, die von der ober­schwäbis­chen Eidgenossen­schaft der Bauern aufgestellt wur­den. Diese gel­ten zusam­men mit der Bun­des­or­d­nung als erste Men­schen­recht­serk­lärung der Welt. (Wikipedia)

Damit kamen sie zu Mar­tin Luther. Er war ihr geliebter Ver­trauensmann. In sein­er Hand ruhte damals, men­schlich gesprochen, die Sache Christi für das Abend­land. Nur wenige Male in der Geschichte hat ein Men­sch die Waage der Welt­geschicke so in der Hand gehabt, wie dieser Mann in dieser Stunde. Wir wis­sen, wie es gegan­gen ist. Dieser Mann, dessen Grösse und Werk wir im übri­gen nicht antas­ten wollen, er hat, zum Teil getrieben durch unselige Lei­den­schaft, zum Teil durch ein­seit­ig verz­er­rte Wahrheit, das Band zwis­chen Chris­tus und dem Volke so furcht­bar zer­schnit­ten, dass es fast nicht mehr möglich scheint, es wieder zu knüpfen, und hat dafür die Sache Christi mit der Sache der Fürsten und Mächti­gen so fest ver­bun­den, dass es fast nicht mehr möglich scheint, diese Verbindung zu zer­reis­sen.

Die gnaden­lose Reak­tion der Her­ren auf diese Forderun­gen sind eben­falls bekan­nt:
Ein bre­it­er Strom des Blutes aus den Todeswun­den von hun­dert­tausend Bauern, in dem sich der Brand von tausend und tausend Dör­fern und Städten spiegelte, aus dem die Schreie der gemarterten und geschän­de­ten Kinder und Frauen ertön­ten, aus dem das Antlitz neuer, jahrhun­derte­langer Knechtschaft grin­ste, floss durch das christliche Abend­land; — und dieser Strom tren­nt sei­ther die Sache Christi von der Sache des Volkes. Vor diesem Strom ste­hen auch wir. (…)
Die Tragik in unser­er geschichtlichen Entwick­lung beste­ht darin, dass in ihr zwei Lin­ien auseinan­der­laufen, die Lin­ie der­er, die an Gott glauben, aber nicht an sein Reich auf Erden, und die Lin­ie der­er, die an das Reich Gottes auf Erden glauben, aber nicht an Gott.
— und meinte damit natür­lich den Marx­is­mus als athe­is­tis­che Heil­slehre mit dem Ziel der klassen­losen Gesellschaft.

Leon­hard Ragaz erkan­nte es als seinen Leben­sauf­trag, diese bei­den Lin­ien wieder zusam­men­zuführen.

Dazu mehr in der näch­sten Folge am kom­menden Sam­stag, den 8. April.

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