Weit davon ent­fer­nt, die Geschicht­sphiloso­phie des dialek­tis­chen Mate­ri­al­is­mus von Karl Marx run­dum abzulehnen, bemühte sich Ragaz, dessen inner­sten Kern her­auszuar­beit­en. Dieser Kern ist sein Mes­sian­is­mus:
Es wäre ein schw­er­er Irrtum, wenn man den Marx­is­mus bloss als eine ökonomisch-soziale The­o­rie neben anderen ver­ste­hen wollte. Dann kön­nte man wed­er seine gewalti­gen Wirkun­gen begreifen, noch wäre man imstande, ihn zu über­winden. Man ver­ste­ht den Marx­is­mus nur dann, wenn man ihn als eine Reli­gion erken­nt. (…) Wir haben gezeigt, dass der Marx­is­mus ein Enkel des Hegelian­is­mus ist. (…) In diesem Mate­ri­al­is­mus glüht noch der ide­al­is­tis­che Wein der Hegelschen Philoso­phie. Es ist der Feuer­bach­sche Mate­ri­al­is­mus, und dessen Mei­n­ung ist, dass das Got­twe­sen des Men­schen ger­ade auch im sinnlich-materiellen Leben zur Gel­tung kom­men solle. Es ist der Geist, der in die Materie hinein will, aber er tut es, um sie dem Geist zu unter­w­er­fen, und er bleibt auch in der Materie Geist.

Diesen Ide­al­is­mus im Mate­ri­al­is­mus also muss man zuerst ver­ste­hen, wenn man dem Marx­is­mus gerecht wer­den will. Es lebt darin etwas von der Wahrheit des Zen­tral­wortes der Bibel: “Das Wort ward Fleisch”. (…) Diese Reli­gion des Mes­sian­is­mus, mit dem Hegel-Feuer­bach­schen Geiste vere­inigt, ist die glühende Seele des Marx­is­mus, die wis­senschaftliche Form ist sein Leib, ja vielle­icht bloss sein Gewand. Erst wenn man diesen Gesicht­spunkt gefun­den hat, besitzt man … den Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis des Marx­is­mus und auch den recht­en Ansatzpunkt für seine Kri­tik. 

Leon­hard Ragaz hat sich sein ganzes Leben lang dage­gen gewehrt, die Botschaft des Evan­geli­ums unter dem Vor­wand des Ausspruch Jesu “Mein Reich ist nicht von dieser Welt” lediglich als eine auf ein Jen­seits gerichtete Heil­slehre zu inter­pretieren, die sich um die unhalt­baren Zustände auf dieser Welt nicht weit­er küm­mert. So bekräftigt er:
Auch die Bibel haben wir dabei dur­chaus auf unser­er Seite. Es gehört ger­ade zum Sinn des Mes­sian­is­mus, dass die Gerechtigkeit Gottes auch ins Materielle einge­hen will. Jenes Zen­tral­wort der Bibel: “Das Wort ward Fleisch”, ist auch das let­zte Wort des Mes­sian­is­mus, ist seine Erfül­lung und, in gewis­sem Sinne, Über­bi­etung. 
Die Bibel ist mit­nicht­en bloss ein spir­i­tu­al­is­tis­ches Buch, ein Buch, das die Macht des Gottes preist, son­dern noch deut­lich­er ein mate­ri­al­is­tis­ches … Ihr ist die Materie als Schöp­fung Gottes so heilig wie der Geist. 

Diese Hal­tung von Ragaz, die Botschaft Christi nicht ein­seit­ig nur auf das Innen­leben der Men­schen zu reduzieren, zeigt sich auch in sein­er Inter­pre­ta­tion des Ausspruchs Jesu über das “Reich Gottes”:
Das Reich Gottes ist eine inner­liche Sache, es ist die grösste Inner­lichkeit, die es gibt, der vol­len­det­ste Spir­i­tu­al­is­mus, die Seele ist ihm alles — “was hülfe es dem Men­schen, so er die ganze Welt gewönne, litte aber Schaden an sein­er Seele?” — aber es ist gle­ichzeit­ig die vol­len­det­ste Äusser­lichkeit in dem Sinn, dass alles Innere ein Äusseres wer­den soll; das Wort: Das Reich Gottes ist inwendig in euch”, muss richtiger über­set­zt wer­den: “Das Reich Gottes ist mit­ten unter euch”.
(- wobei die eine Über­set­zungsvari­ante die andere über­haupt nicht auss­chliessen muss. Im Gegen­teil: Sie ergänzen sich)
Die Bibel ver­tritt einen heili­gen Mate­ri­al­is­mus, das Ende der Wege Gottes ist nach ihr, im Sinne eines bekan­nten Wortes, Leib­lichkeit. Darum ste­ht in der Mitte des Unser­vaters die Bitte um das tägliche Brot; darum beste­ht der Liebes­di­enst des barmherzi­gen Samarit­ers in lauter materiellen Din­gen; darum wird nach dem Gle­ich­nis vom Welt­gericht vor Gottes Richter­stuhl nach lauter sozialen Verpflich­tun­gen gefragt; darum ist Jesu Haupt­tätigkeit die Heilung von Kranken. 

Und zum Ausspruch Jesu “Mein Reich ist nicht von dieser Welt” hält er fest:
… es kommt “von oben”, von Gott her, es ist ganz anders als die Welt und ihre Ord­nun­gen, gewiss, es weist in in ein Jen­seits, und es ist falsch, es zu ein­er reinen Dies­seit­slehre zu machen — aber es ist für diese Welt, will in diese Welt kom­men, will diese Welt erlösen und zur Neuen Erde machen, das Leben des Jen­seits soll in diese Welt brechen und darin alle Todesmächte über­winden

Ein Ver­gle­ich dieser Auf­fas­sung mit dem Welt­bild der Kab­bala, der jüdis­chen Mys­tik, ist auf­schlussre­ich: Dort erscheint als eine der zen­tralen Auf­gaben der Men­schheit “Tikkun”:
Das hebräis­che Wort »Tikkun« bedeutet »Fes­ti­gung«, »Nachbesserung« oder »Reparatur«. Unsere Weisen ver­standen »Tikkun Olam« als eine wesentliche jüdis­che Auf­gabe, zur Verbesserung des Zus­tands der Welt beizu­tra­gen. (Jüdis­che All­ge­meine)

Für Leon­hard Ragaz bildete also der Kampf um soziale Gerechtigkeit und der Kampf, dem “Chris­tus in uns” zum Siege zu ver­helfen,  eine unau­flös­liche Ein­heit. Wir bleiben auch in der näch­sten Folge am Sam­stag, dem 15. April bei diesem The­ma.

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