Der Kognitionspsychologe Christian Stöcker, Autor des Buchs “Das Experiment sind wir”, veröffentlichte im Spiegel vor kurzem einen Artikel mit dem Titel “Wie die Biosphäre kaputt gewuchert wird”. Darin greift er zu drastischen Worten:
Wenn man sich über den aktuellen Zustand der Welt Gedanken macht, verfällt man schnell auf Vergleiche aus dem Bereich der Medizin. Was die Menschheit mit dem Planeten und der Biosphäre anstellt, hat etwas eindeutig Pathologisches: Der Planet hat Fieber. Unkontrolliertes, zerstörerisches Wachstum nennen wir gemeinhin Krebs.
Der Vergleich von Wirtschaftswachstum und Krebs klingt sehr brutal, ja aktivistisch, übertrieben, tendenziös. Das ist er aber nicht: Die vorliegenden Daten zeigen sehr klar, dass das Wachstum, das die Weltwirtschaft in den vergangenen etwa 200 Jahren durchlebt hat, die Trägerwelle für die hochgefährlichen Entwicklungen ist, mit denen wir es heute zu tun haben. Zuallererst natürlich Klimakrise und Artensterben .
Wir wuchern mit unseren wirtschaftlichen Aktivitäten die Biosphäre kaputt. Im Moment verhalten wir uns wie ein Bodybuilder, der an Krebs leidet, aber jedes Tumorwachstum erfreut als Zugewinn an Muskelmasse umdeutet.
Und dann diagnostiziert er bei vielen internationalen Konzernen eine antisoziale Persönlichkeitsstörung” (früher hiess das: psychopathisch) . (…) Firmen verhalten sich … ab einer gewissen Größe, automatisch rücksichtslos und potenziell kriminell. …Generell gilt die antisoziale Persönlichkeitsstörung als »ein durchdringendes Muster der Missachtung von Konsequenzen und der Rechte anderer«. Von reinem Profitstreben getriebenes Handeln erzeugt gewissermaßen automatisch Ergebnisse, die denen einer antisozialen Persönlichkeitsstörung zum Verwechseln ähnlich sehen. Ein Gewissen ist beim Geschäftemachen nur hinderlich.
Der Infosperber veröffentlichte vor kurzem eine Übersicht über die schockierenden Profite der Rohstoffhändler in den letzten beiden Jahren.
Der absolute Überflieger ist der Zuger Konzern Glencore, erklärt Public Eye. Bereits 2021 machte er knapp 5 Milliarden US-Dollar Gewinn. Dies entspricht einer Steigerung von satten 661 Prozent gegenüber dem Durchschnitt vor der Pandemie. Im ersten Halbjahr 2022 waren es dann bereits 12 Milliarden US-Dollar, eine Gewinnsteigerung von 846 Prozent im Vergleich zur Vorjahresperiode.
Laut der «Financial Times» ist Glencore «einer der grössten Gewinner des durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten Tumults auf den Rohstoffmärkten». Für diesen Rekord mitverantwortlich: der Klimakiller Kohle, mit einem Anteil von geschätzten 50 Prozent am Glencore-Profit. Das entspreche einer Verzehnfachung des Gewinns mit Kohle innerhalb eines Jahres, schreibt Public Eye.
Doch halt! Was erlauben wir uns, die Augenbrauen etwas hochzuziehen?
Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel macht uns wie immer gut gelaunt klar, zu welch schnödem, undankbaren Pack wir mit unseren Fragezeichen gehören:
Ganz herzlichen Dank, Glencore, dass Sie in der Schweiz sind, dass solche Wahnsinnsunternehmen aus der Schweiz operieren. … von unseren Linken und Grünen verteufelt und angefeindet. Sie würden Sie am liebsten aus dem Land jagen … Wir Schweizer müssen dankbar sein, dass solche internationale Konzerne bei uns sind. … Diese wohlstandsverwahrloste Überheblichkeit! Diese Rohstoffhändler … gewähren die Fundamente unserer Zivilisation, nämlich die Rohstoffe, auf denen alles beruht. … Diese leichtfertigen Kapitalismusabschaffer grüner, linker oder roter Provenienz … sind natürlich eine Bedrohung für diese Fundamente der Zivilisation. Diese Rohstoffhändler müssen nicht verteufelt werden, sondern sie müssen für ihre zivilisatorische Arbeit gelobt werden. Ganz wichtig!
(aus Weltwoche Daily vom 15.2.23)
Da bleibt uns nur noch, in Sack und Asche zu gehen, — genauso wie Ulrike Hermann mit ihrem Buch “Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind”.
So kehren wir nun mit schlechtem Gewissen zurück zu den Ausführungen Alexander von Pechmann in “Die Eigentumsfrage im 21. Jahrhundert”. Er schreibt:
Mit der ökonomischen Vermehrung des Reichtums auf der rechtlichen Basis des privaten Eigentums ist jedoch nicht nur in ökologischer Hinsicht die Zerstörung der Natur, sondern auch in sozialer Hinsicht untrennbar der Ausschluss aller anderen von diesem Reichtum verbunden. … Das private Eigentumsrecht zieht eine imaginäre Grenze zwischen Innen und Aussen, zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. (…)
Unter der rechtlichen Bedingung bürgerlich-kapitalistischer Eigentumsordnung existiert folglich die Paradoxie, dass in ökonomischer Hinsicht ein immenser Reichtum in Gestalt der vielen nützlichen Güter hervorgebracht wird, dass in sozialer Hinsicht jedoch die Gesellschaft gespalten ist … in die Reichen, die Haves, und die Armen, die Have-Nots.
Wenn wir also davon ausgehen, dass unter der weltweit dominierenden Rechtsform des bürgerlich-kapitalistischen Eigentums die Eigentümer des geschaffenen Reichtums reich, die Nicht-Eigentümer hingegen arm sind, dann liegen die Fragen nahe:
Wer ist reich und welchen Gebrauch machen die Reichen von ihrer Sache, dem Reichtum, der ihnen rechtlich zugehört; sowie umgekehrt, wer ist wie arm, und was machen die Armen aus ihrer Sache, der Armut, die ihnen das Recht zuweist?
Diesen Fragen gehen wir in der nächsten Folge am Freitag, den 24. Februar nach.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz
Louis Kuhn
Feb 17, 2023
Christian Stöcker, “Das Experiment(-en) Opfer)) sind wir”, verwendet 2 schlimme Metaphern:
1. Vom irrenden Body-Builder: “Wir wuchern mit unseren wirtschaftlichen Aktivitäten die Biosphäre kaputt. Im Moment verhalten wir uns wie ein Bodybuilder, der an Krebs leidet, aber jedes Tumorwachstum erfreut als Zugewinn an Muskelmasse umdeutet”.
2. Von der antisozialen Persönlichkeits-Störung internationaler Konzerne: “Von reinem Profitstreben getriebenes Handeln erzeugt gewissermaßen automatisch Ergebnisse, die denen einer antisozialen Persönlichkeitsstörung zum Verwechseln ähnlich sehen. Ein Gewissen ist beim Geschäftemachen nur hinderlich”.
Schlimm genug. Aber noch schlimmer ist, das wir an juristische Persönlichkeiten (z. B. eine AG, französisch S.A. société anonyme (!)) glauben und sie für selbstverständlich halten. Habt Ihr mal eine gesehen oder ihr gar die Hand geschüttelt? Es ist doch ihr — von Juristen erfundenes — (Un)-Wesen, dass sie keine wirklich lebendigen Personen sind, und folglich “wachsen” können, wie keine wirkliche Eiche wächst, und selbstverständlich auch kein Gewissen und keine Verantwortung haben. Es liegt an uns, ob wir diesen juristischen Götzen und ihren “Organen” = ökonomischen Hohenpriestern noch unsern Glauben schenken bzw. uns von ihnen abzocken lassen wollen. Oder haben Sie Lust, dass weiter an Ihnen herum-experimentiert, d.h.-geschnetzelt werden soll?
Franz Büchler
Feb 18, 2023
https://www.youtube.com/watch?v=8IfmiKnZi3E
Franz Büchler
Feb 19, 2023
Zum Thema und zur zukünftigen Gestaltung gäbe es zwei interessante Bücher von Mariana Mazzucato:
»Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern«
und
»Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft«
max feurer
Feb 19, 2023
Danke für den Hinweis. Wäre doch perfekt für eine kleine Buchkritik im birsfaelder.li 😉