Der Muskogee/Creek-“Medicine Man” — heute nennt man sie Schamanen — hiess Phillip Deere. Deere war spiritueller Berater einer Bewegung junger entwurzelter “Stadtindianer”, die beschlossen hatten, sich nicht mehr als Menschen zweiter oder dritter Klasse fühlen zu wollen und das American Indian Movement (AIM) ins Leben riefen. In einer Rede 1981 beschriebe Deere deren Drama:
Einst waren sie eine stolze Nation, aber sie wurden zu Bettlern in diesem Land. … Es gab eine Zeit, da waren sie stolze Menschen. Aber als sie aus den Reservaten wegzogen und in die städtischen Gebiete, in das das Stadtleben, wurde auch das ein hartes Leben für sie. Denn man hat ihnen Jobs verweigert. Nicht weil sie drogensüchtig waren, nicht weil sie Alkoholiker waren, sondern einfach wegen ihrer Hautfarbe, wurden ihnen diese Jobs verweigert.
Auf den Straßen von Denver, auf den Straßen von San Francisco, New York City, wurden Indianern, junge Indianern, die zur Schule gingen, genau wie Sie hier, diese Jobs verweigert. Und sie mussten mit gesenktem Kopf und in Scham durch die Straßen laufen, weil sie Indianer waren.
So oder ähnlich sprach Phillip Deere damals auch in Zürich an einer von INCOMINDIOS organisierten Veranstaltung. Deere beeindruckte durch seine ruhige, konzentrierte Ausstrahlung. Und der birsfaelder.li-Schreiberling beschloss, bei INCOMINDIOS mitzumachen. (Wer sich eines der seltenen Interviews mit Phillip Deere anschauen möchte, findet es hier).
Dann ging alles sehr schnell. In Kürze entstand eine Regionalgruppe Basel, und der Schreiberling fand sich in der Rolle des Präsidenten wieder. Eine spannende Zeit begann, denn in den 70-er und 80-er Jahren erwachten die indigenen Nationen langsam aus ihrer Schocksstarre und Lethargie, machten sich wieder auf die Suche nach ihren eigenen Wurzeln und begannen, den langen Kampf für Recht und gegen Unrecht erneut aufzunehmen. Doch diesmal nicht als militärische Konfrontation — die Wounded Knee-Besetzung 1973 ausgenommen — sondern in den Gerichtssälen und in der internationalen Menschenrechtskommission in Genf. 1978 marschierten mehrere hundert nordamerikanische Indigene und Unterstützer im “Longest Walk” von Alcatraz Island bei San Francisco über 4800 km nach Washington, D.C., um die indigenen Land- und Wasserrechte zu bekräftigen.
Wenn indigene Delegationen in Genf eintrafen, organisierte INCOMINDIOS Auftritts- und Begegnungsmöglichkeiten in der Schweiz. In Basel organisierten wir Standaktionen, Vorträge, Schulbesuche und Empfänge, so etwa beim Stadtpräsidenten in Rheinfelden. Höhepunkt war ohne Zweifel ein Abend im überfüllten grossen Saal des Bernoulllianums in Basel, wo Delegierte der Lakota‑, Hopi- und Hau de no sau nee-Nationen ihre Botschaften überbrachten und der Lakota-Sänger und Aktivist Floyd “Red Crow” Westerman seinen berühmten Song “Custer died for your sins” vortrug (eine Anspielung an die Schlacht am Little Big Horn).
Das war auch die Zeit, als überall das Interesse am Schamanismus und dessem Weltbild erwachte. Die eindrücklichen Biographien des Oglala Lakota Black Elk und anderer Schamanen gaben Einblick in ein faszinierendes und für uns gleichzeitig fremd anmutendes spirituelles Universum. Die Bücher von Carlos Castaneda über die Lehren des mexikanischen Schamanen Don Juan Matus wurden zu Bestsellern.
Eine erste indirekte Erfahrung damit machte der birsfaelder.li-Schreiberling anlässlich eines gemütlichen Abendessens mit Lakotas und Irokesen bei ihm zuhause. Während der ungezwungenen Unterhaltung bemerkte Bad Wound, ein alter Lakota, der nur gebrochen Englisch sprach und mit seinen Haarzöpfen völlig dem Indianer-Klischee entsprach, beiläufig, die Autofahrt von Genf über den Jura habe ihn an die Black Hills, die heiligen Berge der Lakota, erinnert, — und er habe eine ganze Reihe von “little men” gesehen. Woraufhin ein junger irokesischer Schamane, der noch in seiner 12-jährigen Ausbildung steckte, sein Gegenüber erstaunt ansah und ausrief: “Was, du hast sie auch gesehen!?”. Eine Nachfrage meinerseits ergab, dass es sich bei den “little men” um Naturgeister handeln musste, — unsere Zwerge?
Eine andere Erfahrung machte der Schreiberling anlässlich eines sonnigen Sonntagmorgen-Spaziergangs im Februar auf den Gempen, wieder mit der gleichen Delegation. Der irokesische Chief Oren Lyons schlug vor, an einer geschützten Stelle ein Ritual durchzuführen. Er holte eine Pfeife hervor, Bad Wound Kinnikinnick, den heiligen Tabak, und während die Pfeife die Runde machte, sprach jeder Teilnehmer ein Gebet. Plötzlich stiess Lyons während des Rituals einen Schrei aus, der den Schreiberling regelrecht zusammenzucken liess. Lyons lud damit die Naturwesen der Umgebung ein, am Ritual teilzunehmen.
Man mag über diese indigenen Erfahrungen und Rituale lächeln, — zu Unrecht. Gerade bei Reden der Delegierten wurde immer wieder deutlich, dass eine Dimension mitschwang, die den Worten wirklich Gewicht gab, — und die wir grösstenteils verloren haben. Man kann sie nennen, wie man will, aber ihr Verlust ist mitverantwortlich, dass unsere Beziehung zur Natur oberflächlich wurde, — mit den entsprechenden Konsequenzen.
Doch es gab in dieser spannenden Zeit auch eine dunkle Seite. Darüber mehr in der nächsten Folge
am kommenden Donnerstag, den 18. August.
P.S. Oren Lyons ist inzwischen 92 Jahre alt, aber nach wie vor engagiert im Kampf um die Anerkennung der Hau de no sau nee-Konföderation als unabhängiges staatliches Gebilde und die Propagierung ihrer spirituellen Botschaft. (Video vom Oktober 2021)
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness