Die Stellung als Religionslehrer an der Kantonsschule in Chur war ein Stück Abenteuer. Und zwar ein unsolides. Denn die Stelle umfasste neben bloss acht bis zehn Stunden Religionsunterricht etwa zwanzig in Deutsch und Geschichte, sogar auch Italienisch. Auf diese war ich nun fachmännisch in keiner Weise vorbereitet, und es war eine Leichtfertigkeit, diese Stellung anzunehmen.
So beurteilte Leonhard Ragaz im Alter seinen Entschluss, vom Heinzenberg in eine etwas weniger fordernde Anstellung zu wechseln. Er bezahlte dementsprechend Lehrgeld, — interessanterweise gerade dort, wo er sich noch am kompetentesten fühlte:
Am wenigsten geriet im ersten Jahre gerade der Religionsunterricht, für den ich am ehesten berufen schien. Ich war diesen großen Klassen von im Flegelalter stehenden Burschen, die den Religionsunterricht höchstens als Radaufach gelten ließen, einfach nicht gewachsen und mußte gelegentlich rein disziplinarisch zu scharfen Maßregeln greifen, die ich schon damals pädagogisch verurteilte. Erst im zweiten Jahre, als ich auch höhere Klassen bekam, und im Konfirmandenunterricht, ging es besser.
Dazu kam, dass er offensichtlich im Kollegium einen schweren Stand hatte:
Was das Verhältnis zu den Kollegen betraf, so war es zum größeren Teil unerfreulich. Ein Teil davon, meistens aus dem Schulmeistertum aufgerückte Streber, die hochmütig waren auf ihre «Bildung» und ihren vulgären, besonders darwinistisch oder gar materialistisch gefärbten «Freisinn», haßte mich schon von vornherein mehr oder weniger und hätte am liebsten gesehen, wenn kein zweiter Religionslehrer gekommen wäre. Sie mußten bei jeder Gelegenheit gegen mich, wie gegen meinen Kollegen Hosang, ihren giftigen aber geistlosen Hohn geltend machen. Schlagfertiger Witz aber war nie meine Stärke, auch wenn es mir etwa einmal glückte. Auch politisch herrschte der vulgäre Freisinn, den auch der Rektor vertrat. Es war eine leere, kalte und geistlose Atmosphäre.
Und doch brachten ihm diese beiden harten Jahre einen Gewinn:
Es hat mich genötigt, mich tief in allerlei weltliches Wissen zu versenken. Dadurch ist meine mir selbst freilich nicht bewußte Grundtendenz verstärkt worden, Gott in der Welt zu suchen und die weltliche Wissenschaft (die Kunst eingeschlossen: ich denke besonders an Dante und Michelangelo) zu meiner Theologie zu machen. (…) Ich habe gelernt, das Kirchen- und Religionswesen auch von außen, von der Welt her anzusehen, und auch das hat wesentlich auf meine ganze Existenz wie auf mein späteres Pfarrer- und Professorentum, gewirkt.
Vielleicht war es seine Tätigkeit als Pfarrer für das kantonale Zuchthaus in Chur, die er nebenbei ein Jahr lang ausübte, die mithalf, dass er nach zwei Jahren in Chur zum Pfarrer gewählt wurde, — sehr zu seinem eigenen Erstaunen:
Ich hätte mir das nicht träumen lassen. Die geistige Atmosphäre von Chur war mir im Grunde eher zuwider wie ja die übrigen Graubündner die Churer im allgemeinen nicht gerade lieben. Ich wußte, daß es namentlich in kirchlicher Beziehung mit Chur nicht gut stand. Aber vielleicht war es gerade das, was mich reizte.
Allerdings hat mich dann der Entschluß und seine Verwirklichung durch die Wahl aufs bitterste gereut. Wie gern hätte ich beide wieder rückgängig gemacht ! Aber dann ist mein Churer Pfarramt in vieler Beziehung die schönste Zeit meines Lebens geworden.
Denn hier begann sich seine Eigenständigkeit als Theologe abzuzeichnen. Angesichts der halbleeren Kirchen wagte es Ragaz, zwischen dem religiös unverbindlichen “Freisinn” und den pietistischen “Positiven” auf der Kanzel sein eigenes Denken vorzustellen. Mit Erfolg:
Nicht nur wurde der Kirchenbesuch wieder gut und ist es geblieben, sogar immer besser werdend, sondern es gelang mir auch, das Vertrauen der “Positiven” zu gewinnen (…). Ein ähnliches Vertrauen fand ich bei den Katholiken, obschon ich damals noch viel konfessioneller war als später oder gar heute (…) Und das muss ich zugeben: Bei aller Unreife und vieler besonderer Unklugheit habe ich doch früh eins gehabt: einen ausgeprägten Sinn und eine tiefe Gewissenhaftigkeit gegenüber dem, was anderen Menschen heilig ist und ein Recht hat zu sein.
In Chur machte er entscheidende Fortschritte in seiner spirituellen Entwicklung:
Wenn mein bisheriger Weg trotz allem religiösen Eifer und auch einem entsprechenden, obgleich noch mehr betonten Ernst ein Suchen Gottes gewesen war, so war aus diesem Suchen ein Finden geworden. Nun war mir Gott, wie ich mit Recht erklären durfte, gewisser als ich mir selbst. Wie das zuletzt so geworden ist, kann ich nicht sagen. Es ist eben eines Tages dagewesen; es ist als Gabe und Wunder gekommen. Ich habe in Chur Gott verkündigt, und zwar den starken, weltüberlegenen, heiligen, persönlichen Gott und Vater. (…)
Gewiß setzte ich voraus, daß das, was ich predige und lehre, mit der Bibel im Einklang sei; aber es war auf der einen Seite mein persönliches Erleben und Empfinden, was darin zum Ausdruck kam, auf der andern ein gewisses Destillat meines theologischen Denkens. Zwei Punkte spielten darin eine besonders bedeutsame Rolle: der Vorsehungsglaube und das Jenseits. Von dem Leben über den Tod hinaus darf ich auch sagen, daß es mir ebenso gewiß, wenn nicht gewisser war, als meine «diesseitige» Existenz. Was aber den Vorsehungsglauben betrifft, besser gesagt, den Glauben an Gottes Regiment im kleinsten wie im größten, so führte er auch oft in schweres Ringen mit dem Schein des Gegenteils, blieb aber doch der feste Turm meines Denkens und Tuns.
Ebenfalls in Chur wuchs seine Überzeugung, dass auch das politische Wesen in den Bereich der Herrschaft Gottes gehöre.
In diesem Sinne behandelte ich nicht nur auf der Kanzel die aktuellen Probleme der Weltpolitik wie die der Schweiz oder Graubündens mit einer Selbstverständlichkeit und Ausführlichkeit, die ich mir jetzt, wenn ich noch auf der Kanzel stünde, doch wohl nicht mehr erlaubte, jedenfalls nicht in dieser sozusagen naiven Form. Besonders wichtig war mir stets die Beleuchtung des Weltgeschehens unter dem Gesichtspunkt von Gericht und Gnade. Die Schweiz aber stand unter jenem theokratischen Zeichen, das dem Bettag einst seinen Sinn verlieh.
Und zu guter Letzt wandelte sich Ragaz angesichts des grossen Elends, das er in Trinkerfamilien fand, zum überzeugten lebenslangen Verfechter der Alkoholabstinenz.
Wir bleiben auch in der nächsten Folge noch in Chur, und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 23. Dezember.
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