Es war in Chur, wo bei Leon­hard Ragaz das The­ma langsam aktuell wurde, das ihn als Schw­er­punkt sein ganzes Leben lang begleit­en würde: die Auseinan­der­set­zung mit der dama­li­gen Lage der Arbeit­er­schaft und dem Sozialismus:
Noch mehr als durch mein Auftreten gegen den Alko­hol kam ich durch mein poli­tis­ches Ver­hal­ten in Kon­flikt mit der herrschen­den Denkweise. Schon recht bald nach meinem Amt­santritt hat­te ich durch eine Predigt über die Speisung der Fün­f­tausend eine Art religiös-soziales Beken­nt­nis abgelegt, das gross­es und zum Teil unlieb­sames Auf­se­hen erregte. Ich geri­et bald in fre­undliche Beziehung zu der sozial­is­tis­chen Arbeit­er­schaft, die damals in der Haupt­sache durch den Grütliv­ere­in repräsen­tiert war und infolge dessen einen sehr gemäs­sigten Charak­ter hat­te. Im Schosse der­sel­ben hielt ich etwa Festreden. (…)
Im übri­gen kam in Chur mein soziales Denken und Empfind­en beson­ders auch durch mein Ver­hält­nis zu den Armen zum Aus­druck. Ich war Leit­er der frei­willi­gen Armenpflege, die neben der bürg­er­lichen bestand, aber viel wichtiger war als diese. Ein Drit­tel mein­er Zeit wurde durch sie mit Beschlag belegt. Wo nicht eine Leichenrede oder die Vor­bere­itung auf die Predigt mich in Anspruch nahm, gehörte der Nach­mit­tag so ziem­lich ganz den Armen, zuerst in Form von Sprech­stun­den, dann in Form von Besuchen in ihren Woh­nun­gen oder von Schreibereien. …

Das Prob­lem nicht bloss der Armen, son­dern der Armut, und zwar der Armut als Teil der Nach­folge Christi, rück­te in das Zen­trum meines Ver­hält­niss­es zu Chris­tus und ist neben dem Prob­lem der Kirche immer mehr zur tief­sten Beun­ruhi­gung meines Lebens geworden. 

Nicht zum ersten Mal kommt wieder seine selb­stkri­tis­che Ader zum Vorschein, wenn er schreibt: Diese Dinge scheinen ein gewiss­es ide­ales Licht auf mein dama­liges Sein und Wirken zu wer­fen und tun es auch. Aber sie wer­fen auch einen tiefen Schat­ten. Denn die Beru­fung, die darin lag, hat sich doch nicht recht erfüllt. Ich habe sie auch erst später recht erkan­nt. Es fehlte nicht nur an dem Bewusst­sein, son­dern auch an der let­zten Ganzheit, an einem völ­li­gen, klaren und entschlosse­nen Durch­bruch. .. Gott hat mir damals, wie auch später, mehr ange­boten und zuge­mutet, als ich zu erken­nen und real­isieren imstande war — durch meine Schuld, durch Blind­heit und Schwäche, weniger durch Man­gel an Mut und Lauterkeit. 

Zu einem solchen Schat­ten gehörte auch die Auseinan­der­set­zung mit einem neuen Pfar­rerkol­le­gen, der in Weltan­schau­ung und Charak­ter so ziem­lich das Gegen­teil von Ragaz war: Schützen­festred­ner und Intri­g­ant. Offen­sichtlich kam es auf Seit­en von Ragaz zu mehr als ein­er “gewalt­samen Explo­sion”, … und ich musste und muss mit Michelan­ge­lo erk­lären: “Ich bin ein Knecht der Lei­den­schaft”, — glaube mich freilich auch, wie Dante sich selb­st, eine “Seele voll von Zorn­mut gegen alles Gemeine” nen­nen zu dür­fen. Die Läuterung dieser Glut von oben her ist nur langsam gekom­men und, ach, auch jet­zt noch nicht vollendet. 

Grosse Mühe hat­te er mit gewis­sen pfar­rher­rlichen Pflicht­en, z.B. Spi­talbe­suche und Leichenreden:
Ich hat­te auch sehr viel mit Kranken zu tun. … Das war nun wieder nicht meine Stärke. Es wider­strebte mir, auf kün­stliche Weise ein geistlich­es Gespräch zus­tande zu brin­gen und nicht weniger das kon­ven­tionelle Lesen von Bibelab­schnit­ten und Lieder­versen; beson­ders war mir das Beten als “Funk­tion” unmöglich. Dabei ist es geblieben. Nur Liebe, Teil­nahme und Ver­ständ­nis kon­nte ich geben.
Vol­lends waren die Leichenre­den ein schw­eres Kreuz. Ich hat­te deren durch­schnit­tlich etwa sechzig im Jahre zu hal­ten … Ich hat­te die Ver­stor­be­nen nicht gekan­nt oder ihr Leben erschien unbe­deu­tend. Auch waren die Angaben der Hin­terbliebe­nen oft dürftig und nicht sel­ten unwahr. Zudem war es so schw­er, die Lin­ie der Wahrheit innezuhal­ten, ohne die der Liebe zu ver­let­zen und umgekehrt. Und merk­würdig: so sich­er ich … des Lebens über den Tod hin­aus, des “Jen­seits” war, so wenig war imstande, am offe­nen Grabe davon häu­figes Zeug­nis abzule­gen. So ging ich denn immer wieder von Daleu, dem protes­tantis­chen Fried­hof von Chur, mit dem Vor­satz weg, das Pfar­ramt aufzugeben.

Doch Chur wurde auch zu einem wichti­gen Wen­depunkt in seinem Leben: Heirat!

Dazu mehr am Sam­stag, den 14. Jan­u­ar.
((Der birsfaelder.li-Schreiberling nimmt sich bis zum Ende der Schul­wei­h­nachts­fe­rien eine Auszeit, wenig­sten fast …)

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