Dass es heute angesichts des real existierenden Kasino-Kapitalismus mit seinen grotesken Auswüchsen — die Finanzkrise 2008 lässt grüssen — vielen von uns nicht mehr wohl ist, lässt sich nicht wegleugnen. Auch wollte der birsfaelder.li-Schreiberling aufgrund seiner fehlenden Wirtschafts-kenntnisse einfach nicht begreifen, warum das Bruttosozialprodukt um jeden Preis jedes Jahr steigen muss.
Ein Artikel in der österreichischen Zeitung “Profil”: Zahlenzauber. Warum das BIB permanent wachsen muss, machte dem Schreiberling dann allerdings klipp und klar, dass es leider Gottes anders nicht geht:
… Damit die Welt nicht aus den Fugen gerät, muss das BIP … immerzu steigen. In der Volkswirtschaft kennt man gar fixe Relationen dafür, wie hoch der Anstieg erfolgen muss. Beispielsweise geht die EU bei Berechnungen von Staatsschulden davon aus, dass jeder Prozentpunkt weniger BIP-Wachstum das Budgetdefizit eines Landes um 0,6 Prozentpunkte erhöht. Auch die Arbeitslosigkeit korreliert stark mit dem BIP-Wachstum: Unterschiedlich je nach Wirtschaftsstruktur, führt jeder Prozentpunkt weniger BIP zu rund 0,4 Prozent mehr Arbeitslosen, errechnete der US-Ökonom Arthur Melvin Okun. (…)
Sinkt das BIP oder stagniert es dauerhaft, setzen selbstverstärkende Kreisläufe ein. Die Unternehmen produzieren weniger, deshalb brauchen sie weniger Arbeitskräfte. Es gibt also mehr Arbeitslose, die wiederum weniger Geld haben, um Güter zu kaufen – womit die Produktion noch weiter sinkt. Weniger Beschäftigte und weniger profitable Unternehmen liefern überdies weniger Steuern an den Staat ab. Infolgedessen drosselt auch dieser häufig seine Ausgaben. Der Staat konsumiert also ebenfalls weniger – womit die Produktion noch weiter sinkt. Ein Teufelskreis. (…)
Kein Wunder, dass sich die großen Debatten in Politik, Forschung und Medien kaum jemals um Sinn oder Unsinn des BIP als solches drehen. (Hervorhebung von mir) Vielmehr wird leidenschaftlich gestritten, welche Mittel am geeignetsten seien, das BIP zu steigern. Im Kampf gegen Wirtschaftskrisen, argumentieren gern Sozialdemokraten und Linke, solle es Staaten erlaubt sein, Schulden zu machen – um mit geborgtem Geld das Wachstum wieder anzukurbeln. Schulden seien keine Lösung, entgegnen Konservative und Marktliberale: Das Wachstum werde nur zurückkehren, wenn die Staaten sparen, um das Vertrauen von Investoren zu gewinnen, auf dass sie neue Arbeitsplätze schaffen.
Immerhin findet sich im Artikel doch noch die eine oder andere kritische Beobachtung:
(…) Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob immer mehr BIP-Wachstum tatsächlich zu individuellem Wohlbefinden führt. Zweifellos macht eine zunehmende Zahl von Gütern und Dienstleistungen die Menschen eine Zeit lang glücklich. Aber gilt das auch dann, wenn das BIP bereits sehr hoch ist? Jedenfalls gibt es Methoden, das BIP weiter zu steigern, die dem Wohlbefinden des Einzelnen abträglich sind (…)
Man kann den komplexen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Lebenszufriedenheit auch auf individueller Ebene betrachten: Wenn beispielsweise ein Pendler mit seinem Auto täglich im Stau steht, tut dies weder ihm selbst gut noch der Umwelt – auf das BIP jedoch wirkt es sich positiv aus. Denn der Staugeplagte gibt mehr Geld für Treibstoff aus und muss das Auto häufiger reparieren lassen. Ebenfalls schmälert jegliche ehrenamtliche Tätigkeit das BIP. Von der Altenbetreuung innerhalb der Familie über die Gratis-Nachhilfe für Schulkinder bis zur Blutspende: Derlei Engagement mag die persönliche Zufriedenheit erhöhen und den sozialen Zusammenhalt fördern. Aber weil sie nicht entlohnt ist, fließt sie nicht ins BIP ein.
Die entscheidende Frage, die Oekonomen offensichtlich scheuen wie der Teufel das Weihwasser, ist allerdings: Angesichts der verheerenden Ausbeutung der Natur ist ein unendliches Wirtschaftswachstum nicht möglich, weil damit die Menschheit ihre ureigensten Lebensgrundlagen zerstört, — ein Teufelskreis noch viel dramatischer als der oben erwähnte …
Ist vielleicht im kapitalistischen Wirtschaftssystem ein grundsätzlicher Fehler eingebaut, der uns in diese Sackgasse manövriert hat?
Von Pechmann sieht die Schwächen des Kapitalismus wie viele andere sehr wohl, aber es gibt bei der Kapitalismuskritik einen entscheidenden Haken:
So können Kritiker:innen des Kapitalismus zwar überzeugend erklären, wie und warum das bestehende System aus seiner inneren Logik der Kapitalvermehrung die sozialen wie ökologischen Probleme hervorbringt und hervorbringen muss; sie können auch die sozialen “Kräfte” benennen, die diesem System widerstehen. Aber es fehlt eine kohärente Theorie des Übergangs des bestehenden in ein postkapitalistisches System, in dessen Rahmen die globalen Probleme erfolgreich bearbeitet werden können. Es bleibt zumeist bei der abstrakten Zukunftsidee einen “Assoziation freier Individuen” (Marx). … Die Autoren Michael Hardt und Antonio Negri geben denn auch in ihrem Buch “Demokratie! Wofür wir kämpfen” auf die Frage, wie Befreiung vom System des Kapitalismus denn zu verwirklichen sei, die nüchterne Antwort: “Diese Frage können wir noch nicht beantworten. … Aber eines wissen wir: Die Probleme (Krieg und Frieden, ökologische Probleme, Hunger und Armut u.a. ‑AvP) drängen, und die bestehenden Mächte sind unfähig, sie zu lösen.
Das Bemühen vieler Kapitalismuskritiker:innen ist denn auch eher darauf gerichtet, überhaupt “die Idee und das Bewusstsein der Notwendigkeit, dass etwas anderes wirklich möglich ist, wiederherzustellen, und zwar von Grund auf. Aber das genügt nicht. Solange keine konkrete alternative Vision existiert, bleiben wir trotz alles Wissens über die Sackgasse gelähmt wie die Maus vor der Schlange.
Alexander von Pechmann geht nun auf seiner Suche nach den Ursachen sozusagen noch ein Stockwerk tiefer, wo es mit der Frage “Was ist eigentlich Eigentum?” etwas philosophisch wird, — gefolgt von der nächsten Frage, ob denn “Eigentum”, wie wir es über Jahrhunderte verstanden haben, vielleicht ein noch grösserer Stolperstein auf dem Weg zu einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft ist als der Kapitalismus per se.
Darüber mehr in der nächsten Folge am Freitag, den 9. September.
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