Jesus lehrt nicht das Chris­ten­tum, bei wei­tem nicht, eher das Gegen­teil. … Er hat auch die Kir­che bekämpft und ist von ihr bekämpft wor­den. Sie hat ihn als Trä­ge­rin der Reli­gi­on — und ich möch­te fast sagen: des Chris­ten­tums — ans Schand­kreuz geschlagen.

So Leon­hard Ragaz in sei­nem Buch “Die Bot­schaft vom Rei­che Got­tes”. Man muss die­se Sät­ze auf der Zun­ge zer­ge­hen las­sen, um zu rea­li­sie­ren, welch revo­lu­tio­nä­re Spreng­kraft in ihnen steckt. Doch sofort stellt sich die Fra­ge, ob Ragaz damit nicht ein­fach eine nicht wei­ter ernst­zu­neh­men­de völ­li­ge Aus­sen­sei­ter­po­si­ti­on unter der Theo­lo­gen­zunft ein­ge­nom­men hat.

Dass eine gewis­se Art des Chris­ten­tums immer wie­der im Faden­kreuz der Kri­tik stand, ist bekannt. Man muss sich klar­ma­chen, dass die­se Reli­gi­on zutiefst janus­köp­fig ist. Einer der gros­sen Kri­ti­ker des Kir­chen­chris­ten­tums, Karl Heinz Desch­ner, leg­te sei­ne “Kri­mi­nal­ge­schich­te des Chris­ten­tums” über vie­le tau­send tau­send Sei­ten auf gan­ze zehn Bän­de an!! Mei­nes Wis­sens ist noch kein ein­zi­ger Befund von Sei­ten der Kir­chen wider­legt worden.

Erich Fromm, der gros­se Psy­cho­ana­ly­ti­ker und Mah­ner, stellt in “Haben oder Sein” die Fra­ge, ob Euro­pa denn je wirk­lich chris­tia­ni­siert wur­de. Sei­ne Ant­wort ist ernüchternd:
Obwohl die­se Fra­ge übli­cher­wei­se bejaht wird, zeigt eine gründ­li­che­re Ana­ly­se, dass die Bekeh­rung Euro­pas zum Chris­ten­tum weit­ge­hend an der Ober­flä­che blieb; dass man höchs­tens von einer begrenz­ten Bekeh­rung zum Chris­ten­tum zwi­schen dem 12. und dem 16. Jahr­hun­dert spre­chen könn­te und dass in den Jahr­hun­der­ten davor und danach die Bekeh­rung im Gro­ßen und Gan­zen eine Bekeh­rung zu einer Ideo­lo­gie blieb, beglei­tet von einer mehr oder weni­ger weit­ge­hen­den Unter­wer­fung unter die Kir­che; und dass sie nicht mit einem Wan­del des Her­zens, das heißt einer Ver­än­de­rung der Cha­rak­ter­struk­tur ein­her­ging. Aus­nah­men sind aller­dings die zahl­rei­chen echt christ­li­chen Bewegungen.

Denn die gab es natür­lich auch, allen vor­an in der christ­li­chen Mys­tik von Meis­ter Eck­hart bis The­re­sa von Avi­la und Johan­nes vom Kreuz.
In Bezug auf die Gesell­schaft ver­tra­ten die gro­ßen Den­ker des Mit­tel­al­ters die Ansicht, dass vor Got­tes Ange­sicht alle Men­schen gleich sei­en und selbst der gerings­te unend­lich wert­voll sei. In wirt­schaft­li­cher Hin­sicht lehr­ten sie, dass Arbeit eine Quel­le der Men­schen­wür­de, nicht der Degra­die­rung sei, dass kein Mensch für einen Zweck benutzt wer­den sol­le, der nicht sei­nem Wohl die­ne, und dass Löh­ne und Prei­se von Gerech­tig­keit dik­tiert sein müss­ten. In Bezug auf die Poli­tik lehr­ten sie, dass der Staat eine mora­li­sche Funk­ti­on zu erfül­len habe, dass die Geset­ze und ihre Anwen­dung vom christ­li­chen Geist der Gerech­tig­keit getra­gen sein soll­ten, und dass das Ver­hält­nis zwi­schen Herr­schern und Beherrsch­ten stets auf gegen­sei­ti­ge Ver­pflich­tung begrün­det sein sol­le. Staat, Eigen­tum und Fami­lie sind von Gott den­je­ni­gen anver­traut, die die­sen vor­ste­hen, und müs­sen dem gött­li­chen Wil­len ent­spre­chend gelei­tet und ver­wal­tet wer­den. Zu den mit­tel­al­ter­li­chen Idea­len zähl­te schließ­lich auch die fes­te Über­zeu­gung, dass alle Natio­nen und Völ­ker eine gro­ße Gemein­schaft bilden.

Hart geht er mit der Ent­wick­lung des Chris­ten­tums im 19./20. Jhdt. ins Gericht:
Hin­ter der christ­li­chen Fas­sa­de ent­stand eine neue gehei­me Reli­gi­on – die Reli­gi­on des Indus­trie­zeit­al­ters – die in der Cha­rak­ter­struk­tur der moder­nen Gesell­schaft wur­zelt, aber nicht als Reli­gi­on bekannt ist. Die Reli­gi­on des Indus­trie­zeit­al­ters ist mit ech­tem Chris­ten­tum unver­ein­bar. Sie redu­ziert die Men­schen zu Die­nern der Wirt­schaft und der Maschi­nen, die sie mit ihren eige­nen Hän­den gebaut haben. (…) „Hei­lig“ sind in der Reli­gi­on des Indus­trie­zeit­al­ters die Arbeit, das Eigen­tum, der Pro­fit und die Macht (…). Durch die Umwand­lung des Chris­ten­tums in eine rein patri­ar­cha­li­sche Reli­gi­on war es mög­lich, die Reli­gi­on des Indus­trie­zeit­al­ters in christ­li­che Ter­mi­no­lo­gie zu kleiden. (…)

Im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert hat Nietz­sche ver­kün­det, dass Gott tot sei. Heu­te sagen eini­ge pro­tes­tan­ti­sche Theo­lo­gen das glei­che. Für die meis­ten Men­schen dürf­te die­se Fest­stel­lung auch zutref­fen. Unser Pro­blem heu­te ist aber nicht sosehr die Fra­ge, ob Gott tot ist, son­dern ob der Mensch tot ist, und zwar weni­ger im phy­si­schen Sin­ne – obwohl auch die­se Gefahr droht – son­dern im geis­ti­gen. Es geht um die Fra­ge, ob der Mensch mehr und mehr zum Auto­ma­ten wird, so dass er schließ­lich völ­lig leer und ohne jede Leben­dig­keit sein wird.

Fromm unter­schei­det zwi­schen auto­ri­tä­rer und nicht-auto­ri­tä­rer Reli­gi­on. Wäh­rend die nicht-auto­ri­tä­re Reli­gi­on letzt­lich ein indi­vi­du­el­ler, von äus­se­ren Insti­tu­tio­nen unab­hän­gi­ger inne­rer Ent­wick­lungs­weg ist, ist die auto­ri­tä­re an äus­se­re Dog­men und Macht­hier­ar­chien gebun­den. In ihr wirkt das Freud’sche Über-Ich, — was Freud bekannt­lich dazu brach­te, Reli­gi­on als infan­ti­len Wesens­zug grund­sätz­lich abzulehnen.

Die Mis­sio­na­re, die sich damals in die Gebie­te der indi­ge­nen Natio­nen wag­ten, — vor allem Jesui­ten -, kamen als Ver­tre­ter reli­giö­ser auto­ri­tä­rer Macht­ap­pa­ra­te. Es gibt die schö­ne, klei­ne Geschich­te von einem indi­ge­nen Chief, der von einem Mis­sio­nar bear­bei­tet wur­de, Christ zu wer­den. Der Chief mein­te, es wür­den lau­fend neue Mis­sio­na­re kom­men, die ihre eige­ne Kir­che prie­sen und die ande­ren schlecht mach­ten. Er sehe zudem jeden Tag, wie sich die soge­nann­ten Chris­ten in ihrem täg­li­chen Leben ver­hal­ten wür­den. Wes­halb er zum Schluss gekom­men sei, an sei­nem “Alten Weg” festzuhalten.

In ihrer Ver­blen­dung glaub­ten die­se Mis­sio­na­re, “blin­de Hei­den” bekeh­ren zu müs­sen. Aber viel­leicht könn­ten die Chris­ten ganz im Gegen­teil von Indi­ge­nen ler­nen, z.B. von der Autorin Gayle Highpine:
Nie­mand kann vom Gros­sen Geist abwei­chen, aber wenn jemand ohne Ehr­furcht und Bewusst­sein han­delt, wird er ein geis­ti­ges (und viel­leicht phy­si­sches Opfer der erzeug­ten Dis­har­mo­nie — genau­so wie es den Weg nicht ver­letzt, wenn man über eine hohe Klip­pe läuft, es aber doch zum Tode füh­ren kann. Die meis­ten nicht­ein­ge­bo­re­nen Ame­ri­ka­ner sind in Pro­zes­sen gefan­gen, die sie nicht ver­ste­hen, denen sie sich nicht anpas­sen kön­nen und von denen sie geis­tig und kör­per­lich zer­störtt wer­den. Sie wei­gern sich zu erken­nen, dass es nur eine Illu­si­on ist, wenn man ver­sucht, das zu kon­trol­lie­ren, was uns voll­kom­men umfasst. (…)
Unse­re gesam­te Exis­tenz ist Ehr­furcht. Unse­re Ritua­le erneu­ern die hei­li­ge Har­mo­nie in uns. Jede unse­rer Hand­lun­gen — Essen, Schla­fen, Atmen, Lie­ben — sind Zere­mo­nien, die erneut unse­re Abhän­gig­keit von unse­rer Mut­ter Erde und unser Vewandt­sein mit allen ihren Kin­dern ver­si­chern. Anders als Chris­ten, die das Geis­ti­ge und Kör­per­li­che tren­nen, die die Reli­gi­on in ihr Fach packen, und die die mate­ri­el­le Welt  böse und nur eine Vor­be­rei­tung für die kom­men­de Welt nen­nen, erken­nen wir das “Geis­ti­ge” und das “Mate­ri­el­le” als eins — ohne die Dicho­to­mien zwi­schen Gott und Mensch­heit, Gott und Natur, Natur und Menschheit (…)
Die alten Wege zu gehen, heisst auf hei­li­ge Art zu leben, auf­recht zu ste­hen, gera­de­aus zu gehen, unse­re Brü­der und Schwes­tern ande­rer Natio­nen und Spe­zi­en zu respek­tie­ren. Es bedeu­tet, uns wie die Luft und der Him­mel zu öff­nen, um die Ber­ge, die Gewäs­ser, den Wind, die Lich­ter des Him­mels, die Pflan­zen und die vier­bei­ni­gen, sechs­bei­ni­gen, bein­lo­sen und geflü­gel­ten Lebe­we­sen zu erken­nen. Es bedeu­tet, auf hei­li­ge Wei­se zu töten, Schmerz auf hei­li­ge Wei­se zu erfah­ren, Lie­be, Trau­er, Zorn, Freu­de in hei­li­ger Wei­se zu erle­ben und in hei­li­ger Wei­se zu ster­ben. (aus: Akwe­sas­ne. Wo das Reb­huhn balzt. Tri­kont-Ver­lag)

Wenn ein Christ die­ser Welt­sicht ganz nahe gekom­men ist, dürf­te es Franz von Assi­si gewe­sen sein.

Die Hau de no sau nee haben ihre spi­ri­tu­el­len und poli­ti­schen Wur­zeln in der Bot­schaft ihres eige­nen india­ni­schen Mes­si­as, Degana­wi­dah, dem “Gros­sen Frie­dens­stifter”. Ihm wen­den wir uns in der nächs­ten Fol­ge zu, und dies wie immer

am kom­men­den Don­ners­tag, den 8. September.

P.S. Leon­hard Ragaz hat der birsfaelder.li-Schreiberling inzwi­schen eine eige­ne Serie gewidmet.

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Mattiello am Mittwoch 22/35
Die Reichsidee 52

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