Wie tief ihn die kon­tro­ver­sen und oft scho­ckie­ren­den Erfah­run­gen in Russ­land auf­ge­wühlt hat­ten, zeigt sich an die­sem Geständ­nis in sei­ner Autobiographie:
Ich kam ganz ver­laust zurück an Leib und See­le. Ich muß­te nicht nur über Ruß­land nach­den­ken, son­dern über das Leben überhaupt.
Ich groll­te nicht den Bol­sche­wi­ki. Ich groll­te der Sinn­lo­sig­keit, mit der das Leben in der Welt sich voll­zog. Für gewöhn­lich ist eine Art Lack, ein Fir­nis über das Leben gezo­gen. Ich hat­te das Leben ohne die­sen Fir­nis gese­hen. Alles, was man tat, kam einem lächer­lich vor gegen­über dem, was man, vor allem im Hun­ger­ge­biet, erleb­te. Von die­sem Gefühl konn­te ich mich vor­der­hand nicht frei­ma­chen. Am liebs­ten hät­te ich nicht mehr exis­tiert — aber, weil der Mensch meist nicht aus dem Leben abreist, wenn er es auch als sinn­los emp­fin­det, teil­te ich das Leben in zwei Tei­le: ich prak­ti­zier­te wei­ter als Arzt in der gewohn­ten Wei­se; ich besorg­te mei­ne Par­tei­ar­beit in der gefor­der­ten Wei­se, wie ein Auto­mat — und ander­seits zog ich mich in mich selbst zurück und war­te­te auf der Chai­se­longue dar­auf, ob mir der Sinn des Lebens wie­der aufginge.

Eine klei­ne Frucht die­ses War­tens auf der Chai­se­longue waren Gedan­ken und Apho­ris­men, die er 1923 im Büch­lein “Vom Klein­bür­ger zum Bol­sche­wik” ver­öf­fent­lich­te. Hier ein paar Kost­pro­ben sei­ner Einsichten:
Die meis­ten Men­schen sind schon lan­ge tot, wenn sie sterben.
Wer Macht und Geld erobert, wird von Macht und Geld weiter-getrieben.
Wenn dich dein Lie­bes­part­ner auch nur ein biss­chen lang­weilt, so bren­ne durch, sonst gehst du zugrunde.
Wenn man anfängt, über sei­ne eige­ne Güte gerührt zu wer­den, soll­te man sich aufhängen.
Der Intel­lek­tu­el­le weiss alles und kann nichts. 
Man soll sich nicht schlech­ter behan­deln als die andern.
Wer ein Kanin­chen seziert, kann noch lan­ge kei­nes pro­du­zie­ren.

Der Sinn des Lebens ging ihm tat­säch­lich bald wie­der auf, und zwar in Gestalt einer Dame,
die lach­te so frisch, natür­lich und wohl­klin­gend, daß sie allein schon fast ein Lebens­sinn sein konn­te. Sie füg­te zu mei­nem Leben hin­zu eine Hei­ter­keit, wie sie nur auf Grund eines beson­ders glück­li­chen Tem­pe­ra­ments sich bil­det und die durch kei­ne Gedan­ken­ar­beit und kei­ne Phi­lo­so­phie erwor­ben wer­den kann. Daß dies fro­he Natur­kind noch zwei Dok­tor­hü­te auf sei­nem Locken­kopf trug, war schon eher eine Per­ver­si­tät. Auch daß sie weder durch gött­li­che noch gott­lo­se Reli­gio­si­tät ver­un­ziert war, konn­te einem gebo­re­nen Kir­chen­va­ter wie mir nur gesund­heit­lich för­der­lich sein. Ihre undog­ma­ti­sche Zunei­gung zu den Ernied­rig­ten und Belei­dig­ten mach­te sie wert­vol­ler im Kamp­fe gegen das sozia­le Unrecht, als die ortho­do­xes­te Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit es getan hätte.

Die Dame hiess Pau­la Raj­grod­ski, war eben­falls Ärz­tin, und soll­te 1924 nach ihrer Hei­rat mit Brup­ba­cher bis zu des­sem Tod gemein­sam die Arzt­pra­xis im Aus­ser­sihl wei­ter­füh­ren. Und wie Brup­ba­cher kämpf­te sie an vor­ders­ter Front für eine neue Sexu­al­po­li­tik, für den frei­en Zugang zu Ver­hü­tungs­mit­teln, für die Abtrei­bung, für die Sexu­al­auf­klä­rung, für die Libe­ra­li­sie­rung des Ehe­rechts und für die staat­li­che Unter­stüt­zung der Kindererziehung.

Brup­ba­cher war der neu­ge­grün­de­ten Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei der Schweiz bei­getre­ten und war auch bereit, der bol­sche­wis­ti­schen Revo­lu­ti­on in Russ­land soviel Kre­dit wie mög­lich zu  geben. Aber er war nicht bereit, Still­schwei­gen zu Ent­wick­lun­gen zu bewah­ren, die ihm gefähr­lich und kon­tra­pro­duk­tiv erschie­nen. So kam er auch bald in Kon­flikt mit der Par­tei­zen­tra­le. Wäh­rend sein ers­ter Arti­kel über die rus­si­sche Arbei­ter­op­po­si­ti­on im Par­tei­blatt “Kämp­fer” noch erschei­nen durf­te — aller­dings ver­se­hen mit einer dop­pelt so lan­gen beschwich­ti­gen­den Ein­lei­tung der Redak­ti­on — , schei­ter­te ein zwei­ter Arti­kel bereits am Veto der Parteileitung.

Dele­gier­te der Arbei­ter­op­po­si­ti­on hat­ten in einer Sit­zung der Exe­ku­ti­ve der Kom­mu­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­len erklärt, dass die füh­ren­den Spit­zen (der KPdSU) einen uner­bitt­li­chen, zer­set­zen­den Kampf gegen sol­che Pro­le­ta­ri­er füh­ren, die sich erlau­ben, ein eige­nes Urteil zu haben, und alle nur mög­li­chen Mass­re­geln zur Ver­nich­tung der Demo­kra­tie in der Par­tei usw. anwen­den. (…) Bei die­ser Gele­gen­heit fuhr die “Praw­da” gro­bes Geschütz auf gegen die Dis­si­den­ten, bezich­tig­te sie der zumin­dest unbe­wuss­ten För­de­rung der Gegen­re­vo­lu­ti­on, for­der­te sie auf, aus der Par­tei aus­zu­tre­ten und sich nicht mehr Kom­mu­nis­ten zu nen­nen und stell­te die Arbei­ter vor die Alter­na­ti­ve: “Mit der kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Russ­lands und mit der Kom­mu­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­len oder mit einem Häuf­lein ver­irr­ter oder ver­lo­re­ner Leu­te.” (Lang, Kri­ti­ker, Ket­zer, Kämpfer)

Brup­ba­cher fand die­ses Vor­ge­hen empö­rend, warn­te davor, jede Kri­tik sofort als Begüns­ti­gung der Gegen­re­vo­lu­ti­on hin­zu­stel­len, und schloss,
“dass es wohl wich­tig ist, dass die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei poli­tisch am Ruder blei­be, aber eben­so wich­tig, dass die Arbei­ter­klas­se in vol­ler Frei­heit ihre Ent­wick­lung und Eman­zi­pa­ti­on vollzieht.”

Inter­es­sant war die Begrün­dung des Vetos durch die Par­tei­lei­tung: In der gegen­wär­ti­gen Lage sei die rus­si­sche Par­tei auf die unbe­ding­te Dis­zi­plin ange­wie­sen und man müs­se sich vor­läu­fig eines Urteils ent­hal­ten. Es gel­te ein­fach Ver­trau­en in die Füh­rung zu haben.

Wenn aller­dings etwas wie ein rotes Tuch auf Brup­ba­cher wirk­te, waren es genau die­se Schlüs­sel­wor­te: “unbe­ding­te Dis­zi­plin” und “Ver­trau­en in die Füh­rung”. Und sie weck­ten Erin­ne­run­gen an sei­ne Begeg­nung mit Leo Trotz­ki anläss­lich sei­nes Mos­kau­er Aufenthalts.

Dazu mehr in der nächs­ten Fol­ge am kom­men­den Sams­tag, den 10. September.

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