Eines Tages rief man mich im “Lux” ans Tele­fon, auf­ge­regt, geheim­nis­voll tuend, als ob ein schreck­lich Wun­der gesche­hen, und fast in den Knien vor mir sas­sen um das Tele­phon her­um ein Dut­zend “Lux”-Höflinge. Und wis­sen Sie wes­halb? Trotz­ki, damals Kriegs­mi­nis­ter, tele­pho­nier­te, ich möch­te am Abend, punkt 9 Uhr, zu ihm kom­men; er habe die Stun­de von 9 bis 10 Uhr für mich reser­viert, und er wer­de mir gleich sei­nen Wagen schi­cken. … Wo man hin­hör­te, Hym­nen auf Trotz­ki, den gros­sen Gene­ral des Bür­ger­krie­ges, den ein­zi­gen, in des­sen Res­sort alles klapp­te, den unüber­treff­li­chen Orga­ni­sa­tor, den her­vor­ra­gends­ten Red­ner, den geist­volls­ten Schrift­stel­ler. Neben dem Hei­li­gen­bild von Lenin hing in glei­cher Grös­se über­all, bis ins hin­ters­te Büro der hin­ters­ten Gemein­de des letz­ten Gou­ver­ne­ments, das Bild von Trotzki.

Wie kam es, dass der Zür­cher Fritz Brup­ba­cher beim zweit­mäch­tigs­ten Mann der jun­gen Sowjet­uni­on eine Pri­vat­au­di­enz erhielt? — In sei­nem Tage­buch vom 10. Sept. 1914 hat­te er notiert: Am 19.9. Trotz­ki und Ragaz ken­nen­ge­lernt. … Er (Ragaz) und Trotz­ki wer­den auf mei­nen Vor­schlag in der “Ein­tracht” über Tak­tik spre­chen.
Und in sei­nem “Ket­zer” hielt er fest: Mit der Ankunft von Trotz­ki in Zürich kam wie­der Leben in die Arbei­ter­be­we­gung, oder doch in einen Teil der Arbei­ter­be­we­gung. Er brach­te den Glau­ben mit, den der Mar­xist hat, dass dem Pro­le­ta­ri­at alles Schlim­me zum Guten gerei­che, und dass aus dem Krieg die Revo­lu­ti­on her­vor­ge­hen müsse.

Brup­ba­cher war damals ange­sichts des Ver­sa­gens der Arbei­ter­schaft beim Aus­bruch des 1. Welt­kriegs den revo­lu­tio­nä­ren Paro­len Trotz­kis gegen­über kri­tisch ein­ge­stellt gewe­sen, aber Trotz­ki hat­te recht behal­ten, und nun soll­te er ihn in der Rol­le des fast omni­po­ten­ten Macht­ha­bers erneut treffen:
Der Wagen von Trotz­ki hol­te mich ab. Als er bei der Amts­woh­nung Trotz­kis ankam, stund schon ein Zivi­list an der Por­tie­re des Wagens und nahm mir Hut und Man­tel ab. Dann wur­de ich einem wei­te­ren Herrn über­ge­ben, der mich eilends durch eine Rei­he von Zim­mern führ­te, an deren Türe je zwei Bewaff­ne­te mit auf­ge­pflanz­tem Bajo­nett stun­den. End­lich kamen wir in einen gros­sen Saal, in dem ein Tele­fon­fräu­lein sass. Da war­te­ten wir mit einem Genos­sen, der mich beglei­te­te. Ein paar Minu­ten, und pünkt­lich, zur bestell­ten Sekun­de, öff­ne­te sich eine Dop­pel­tür, und her­aus km Trotz­ki, wim­mel­te noch schnell mei­nen Beglei­ter ab, führ­te mich in sein Büro, vor einen Schreib­tisch, auf dem eine Men­ge Tele­fon­hö­rer lagen, und das Gespräch begann.

Es dreh­te sich u.a. um die Fra­ge des Bei­tritts der fran­zö­si­schen Syn­di­ka­lis­ten unter Pierre Mon­atte in die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei Frank­reichs. Brup­ba­cher über­mit­tel­te des­sen Wunsch, ein­fach als Ver­bün­de­te mit den Kom­mu­nis­ten zusam­men­zu­ar­bei­ten. Trotz­ki dar­auf: Wenn Mon­atte nicht will, so machen wir die Sache ein­fach mit Grif­fu­el­hes (einem ande­ren Syn­di­ka­lis­ten). Grif­fu­el­hes befin­det sich eben jetzt in Mos­kau, und er ist mit uns einverstanden.

Brup­ba­chers Erkennt­nis: Der Besie­ger nicht nur der weis­sen Gene­rä­le, son­dern auch der meu­tern­den Matro­sen von Kron­stadt, hat­te eine Dro­hung aus­ge­spro­chen, deren Ton zeig­te, dass man nicht von Kame­rad zu Kame­rad sprach, son­dern als Chef zum Untergebenen …

Es lohnt sich, das scharf­sin­ni­ge und luzi­de Por­trait, das Brup­ba­cher auf­grund die­ser Erfah­rung von Trotz­ki zeich­ne­te, zur Kennt­nis zu nehmen:
Eigent­lich hat­te ich mir Trotz­ki nie anders vor­ge­stellt. Er ist zwei­fel­los ein aus­ser­or­dent­lich erns­ter und begab­ter Mensch. Aber mir schien schon, als ich ihn in Zürich ken­nen lern­te, dass er sehr auto­ri­tär sei. Men­schen waren ihm Schach­fi­gu­ren. Der Mensch als Indi­vi­du­um inter­es­sier­te ihn nicht. Ihn inter­es­sier­te nur das klas­sen­mäs­sig All­ge­mei­ne am Men­schen — wie das bei jedem Poli­ti­ker der Fall ist. Ich sag­te ihm ein­mal in Zürich, das Ide­al mei­ner Poli­tik sei, alle Ein­zel­in­di­vi­du­en mit all ihren Nuan­cen zum Aus­gangs­punkt zu neh­men, wäh­rend sein poli­ti­sches Objekt der gene­rel­le Mensch, der gene­rel­le Klas­sen­mensch sei, und er war mit die­ser Auf­fas­sung einverstanden.
Wie alle Mar­xis­ten, war er grös­sen­wahn­sin­nig, weil ein Mar­xist sich füh­len muss­te als Stell­ver­tre­ter und Mit­wis­ser “Got­tes”, das heisst des his­to­risch Not­wen­di­gen auf Erden. Wie alle Mar­xis­ten wuss­te er, wohin die Welt­ge­schich­te geht; wie alle Mar­xis­ten hat­te er den Hoch­mut und Stolz des­je­ni­gen, der das Werk­zeug der Vor­se­hung ist. …
Aber gleich­zei­tig aner­kann­te er Trotz­kis hohe Intel­li­genz, Ehr­lich­keit und umfas­sen­de Bildung.

Damals kroch die K.P.-Kanaille vor ihm, die ein paar Jah­re spä­ter Sta­lin zuheul­te: “Kreu­zi­ge ihn”, schrieb Brup­ba­cher über sei­ne Erfah­rung im Hotel “Lux”. Trotz­ki wur­de bekannt­lich von Sta­lin schon 1924 poli­tisch aus­ge­boo­tet, 1929 ins Exil getrie­ben und zu guter Letzt in Mexi­ko von einem gedun­ge­nen Hand­lan­ger ermor­det. Bit­ter kom­men­tier­te Brupbacher:
Er war immer Inter­na­tio­na­list und — wenn man das von einem Mar­xis­ten sagen kann — Idea­list. Alle Klas­sen wer­den in ihren Revo­lu­tio­nen von den Idea­lis­ten in den Kampf geführt, und alle Klas­sen ver­ra­ten die Idea­lis­ten, die sie im revo­lu­tio­nä­ren Sta­di­um ver­göt­ter­ten, wenn sie die Macht erobert haben. Dann lösen die Spiess­bür­ger der betref­fen­den Klas­se die Idea­lis­ten ab. Das ist ein Gesetz der Welt­ge­schich­te. Dar­um lös­te Sta­lin Trotz­ki ab. Zur Zeit, da ich in Mos­kau war, hör­te man von Sta­lin nicht ein­mal den Namen …

Dass Brup­ba­cher mit die­ser Hal­tung in der KP Schweiz schon bald in Schwie­rig­kei­ten gera­ten wür­de, ist nicht wei­ter erstaun­lich. Dazu mehr in der nächs­ten Folge

am Sams­tag, den 17. September.

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