Es ist inter­es­sant, die bei­den Bücher von Nor­man Cohn und von Wal­ter Nigg ein­an­der gegen­über­zu­stel­len. Bei­de set­zen sich mit dem Chi­li­as­mus, resp. Mil­lena­ris­mus — der Erwar­tung des Tau­send­jäh­ri­gen Reichs — aus­ein­an­der, aber ihre Blick­win­kel ste­hen sich häu­fig dia­me­tral gegenüber:

Nor­man Cohn wirft einen höchst kri­ti­schen Blick auf die vie­len ver­geb­li­chen und oft blu­ti­gen Ver­su­che in der euro­päi­schen Geschich­te, die­ses Reich hier und jetzt wirk­lich wer­den zu las­sen. Er zeigt auf, wel­che Irr­we­ge damit ver­bun­den waren, — nicht zuletzt in den tota­li­tä­ren Ideo­lo­gien des 20. Jahr­hun­derts, die er als säku­la­re Able­ger mil­lena­ris­ti­scher Hoff­nun­gen darstellt:
Die Beson­der­heit einer revo­lu­tio­nä­ren Bewe­gung sol­cher Prä­gung (des Chi­li­as­mus) liegt in der Maß­lo­sig­keit und Unbe­grenzt­heit ihrer Ver­spre­chun­gen und Zie­le. In der Vor­stel­lung ersteht ein sozia­les Rin­gen von ein­ma­li­ger Wich­tig­keit, das sich sei­nem Wesen nach von jedem ande­ren Rin­gen der Welt­ge­schich­te unter­schei­det, eine Welt­ka­ta­stro­phe, aus der die Erde geläu­tert und völ­lig ver­wan­delt her­vor­ge­hen wird. 

Und das wie­der­um ent­spricht haar­ge­nau dem, was in unse­rer Zeit die zwei gro­ßen tota­li­tä­ren Bewe­gun­gen~ Kom­mu­nis­mus und Natio­nal­so­zia­lis­mus — beson­ders in den revo­lu­tio­nä­ren Anfän­gen aufs deut­lichs­te gekenn­zeich­net hat. Was die­se moder­nen Bewe­gun­gen vom übli­chen Trei­ben der poli­ti­schen Par­tei­en Euro­pas — ob kon­ser­va­tiv oder fort­schritt­lich — so scharf trennt, das ist eben ihre Art, sozia­len Ziel­set­zun­gen und Kon­flik­ten tran­szen­den­te Bedeu­tung zu ver­lei­hen, sie sozu­sa­gen mit dem gesam­ten mys­te­riö­sen und erha­be­nen Gehalt des end­gül­ti­gen Welt­un­ter­gangs­dra­mas auszustatten. 

Chi­li­as­mus also als nega­ti­ves Ele­ment in der geschicht­li­chen Ent­wick­lung Europas!

Wal­ter Nigg sei­ner­seits sieht durch­aus die mit der Reich­ser­war­tung ver­bun­de­nen nega­ti­ven Aspek­te, wenn er schreibt:
Frei­lich war die­ses nie zu unter­drü­cken­de War­ten immer wie­der von schwe­ren Gefah­ren bedroht. Sei­ne erre­gen­de Geschich­te hat von man­nig­fa­chen Qua­len zu berich­ten. Stets haben sich an die größ­te Hoff­nung auch zahl­rei­che Unzu­läng­lich­kei­ten gehängt, die die Strah­lungs­kraft ver­dun­kel­ten. Die mensch­lich-all­zu­mensch­li­chen Vor­stel­lun­gen, die sich ger­ne damit ver­ban­den, konn­ten nicht anders als uner­füllt blei­ben. Allen jenen Chris­ten, die nicht zwi­schen Ver­gäng­li­chem und Blei­ben­dem in der Reich­ser­war­tung zu unter­schei­den ver­moch­ten, die nicht zu dem Wesen durch­drin­gen konn­ten, das hin­ter all den man­nig­fa­chen Bil­dern steht, in die sich die Reichs­hoff­nung von ihrer Ent­ste­hung an geklei­det hat, blie­ben die schmerz­lichs­ten Erleb­nis­se nicht erspart. Sie fie­len einer ver­häng­nis­vol­len Ver­wechs­lung von Vor­läu­fi­gem und End­gül­ti­gem zum Opfer …

Doch im Gegen­satz zu Nor­man Cohn sieht er vor allem die posi­ti­ven Kräf­te, die dank der Reich­ser­war­tung in der Geschich­te Euro­pas frei­ge­setzt wurden:
Von den Tagen der Pro­phe­ten bis zur Gegen­wart reicht die gespann­te Aus­schau nach der her­ein­bre­chen­den Got­tes­herr­schaft und erweist sich als das gros­se Licht in der Trost­lo­sig­keit des mensch­li­chen Daseins … Das sehn­süch­ti­ge Sich­aus­stre­cken nach dem Reich als Lebens­hal­tung ver­stan­den, ver­mit­telt dem Men­schen eine inne­re Freu­de und wirft einen schim­mern­den Glanz über sei­nen Lebens­weg … Die gedul­dig-unge­dul­di­ge Erwar­tung des Rei­ches ist eine bedrän­gen­de Bege­ben­heit der christ­li­chen Geschichte … 

Geschichts­ken­ner haben die Idee des Tau­send­jäh­ri­gen Rei­ches als einen der schick­sals­haf­tes­ten und fol­gen­reichs­ten Gedan­ken der christ­li­chen Ent­wick­lung bezeich­net. Es liegt in die­ser immer wie­der auf­le­ben­den Erwar­tung des Rei­ches eine eigen­tüm­li­che Kraft, die den Men­schen trägt und zugleich weit über sei­nen engen Hori­zont hin­aus­hebt. Auch G. F. Hän­del hat in sei­nem »Mes­si­as« der Mäch­tig­keit die­ser leben­di­gen Hoff­nung mit sehn­süch­ti­gen Fan­fa­ren­klän­gen unver­gleich­li­chen Aus­druck gegeben.

Und um den gan­zen The­men­kreis noch etwas kom­ple­xer zu machen, hier ein Zitat aus dem Buch “Die Reichs­idee 1918–1945” von Hans-Georg Mei­er-Stein, wor­in er sich gegen sei­ne Fach­kol­le­gen wehrt, die ihm vor­wer­fen, sich mit der Unter­su­chung der reli­gi­ös-poli­ti­schen Dimen­si­on der Reichs­idee ins­be­son­de­re in Deutsch­land und Öster­reich an toxi­schen Geschichts­stoff zu wagen:
Die skep­ti­schen und oft pole­mi­schen Urtei­le über den “Mythos vom Reich” erken­nen die Legi­ti­mi­tät die­ses poli­ti­schen Pro­gramms schlech­ter­dings nicht an. Für sie arti­ku­liert sich im Reichs­my­thos das Kon­zept eines chau­vi­nis­ti­schen Macht­staa­tes; er ist dem­nach Mani­fes­ta­ti­on idea­li­sier­ter Erin­ne­rungs­kom­ple­xe, eines ent­hemm­ten Glau­bens­be­dürf­nis­ses, hoch­ge­trie­be­nen Selbst­wert­ge­fühls und illu­sio­nä­rer Befan­gen­heit wie patho­lo­gi­scher Mythen­an­fal­lig­keit. Rich­tig dar­an ist, daß ideo­lo­gi­sches Eife­r­er­turn und natio­na­les Res­sen­ti­ment man­che absei­ti­ge und über­spann­te Kon­struk­ti­on, welt­an­schau­li­che Schwär­me­rei, ver­stie­ge­ne qua­si-reli­giö­se Traum­phan­ta­sie gezei­tigt haben.

Die Reichs­idee a prio­ri abzu­schmet­tern, steht aber denen am wenigs­ten an, die jahr­zehn­te­lang der Akzep­tanz eines men­schen­ver­ach­ten­den Sta­tus quo das Wort rede­ten und die bereit waren, sich mit dem alle Grund­sät­ze des Völ­ker­rechts miß­ach­ten­den sowje­ti­schen Impe­ria­lis­mus abzufinden.

In den nächs­ten Fol­gen gehen wir die­sen gegen­sätz­li­chen Posi­tio­nen etwas inten­si­ver auf den Grund. Doch zuerst wer­fen wir einen Blick auf die Quel­le, der all die­se Ideen und Hoff­nun­gen ent­sprun­gen sind:
Auf die Ver­kün­di­gung des Rei­ches Got­tes durch eine her­aus­ra­gen­de Gestalt in der Geschich­te der Menschheit,
Jes­hua ben Joseph / Jesus Christus.

Dazu mehr am kom­men­den Frei­tag, den 22. Okto­ber.

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