Heiner Koechlin war in seinem Leben an einem Punkt angelangt, wo er sich in einer Sackgasse fühlte: Ideale und Lebenswirklichkeit klafften ziemlich auseinander, dazu kam eine unglückliche Liebe. Er testete zwei Wege, die ihn aus besagter Sackgasse herausführen sollten:
- Eine Psychoanalyse bei einem klassischen Freudianer (Ödipus lässt grüssen …), die er allerdings bald abbrach. Fazit des Analytikers: neurotischer Widerstand! Fazit Koechlins: Subjektive Interpretationen eines Therapeuten, der kein Gott, sondern “ein Mensch ist wie ich”.
— Intensiver abendlicher Besuch der Rio-Bar beim Barfi, wo er dank eines starken Schnapses namens “Dynamite” jeweils “stundenlang dummes Zeug redete, das man für höchste Philosophie hielt”. Auch ein kurzer Abstecher in eine esoterische Runde in der alkoholfreien Kaffeehalle im Schmiedenhof” brachte keine Erleuchtung.
Schliesslich rettete ihn die Liebe zu einer jungen Spanierin, die er im Gundeldinger Casino kennenlernte: Elisa “Peteta” Valcarce. Das bedeutete gleich zwei Kompromisse: Die Eltern Elisas waren gutbürgerlich situiert, in der Bibliothek des gebildeten Schwiegervaters hing ein Bild des Generals Franco. Dazu kam das Unverständnis vieler anarchistischer Basler Freunde über seinen Entschluss, seine Liebe auch noch tatsächlich offiziell zu heiraten und sich so einer staatlichen Institution zu unterwerfen!! Aber wie es halt im Leben so geht: “L’amour est un oiseau rebelle” 🙂 und kümmert sich nicht unbedingt um theoretische Lebensentwürfe …
Und schon bald kam mit der Geburt eines Mädchens, Concesa, eine ganz konkrete Verantwortung. Immerhin blieb seine anarchistische Ader durchaus lebendig, wenn er festhielt, er und Elisa hätten ihr Töchterchen “weder gut noch schlecht erzogen, weder autoritär noch antiautoritär, sondern vielmehr gar nicht”. Dennoch sei eine tüchtige, gutherzige Frau aus ihr geworden, — was wieder einmal bestätigt, dass wahre Erziehung vor allem durch die unaufgeregte, natürliche und warmherzige Präsenz der Eltern geschieht, und weniger durch die Anwendung irgendwelcher erzieherischer Ratgeber.
In dieser Lebensphase suchte er vermehrt Antworten auf seine vielen Fragen über Sinn und Zweck des menschlichen Lebens in der Philosopie. Noch in Paris hatte ihn der spanische Anarchist Antonio Garcia Birlán mit dem Werk des russischen christlichen Existentialisten Nikolaj Berdjajew bekannt gemacht. Die Frage nach einer möglichen Beziehung zwischen Anarchismus und Christentum sollte ihn immer wieder beschäftigen, wie wir noch sehen werden.
In Basel begann er sich mit philosphischen Schwergewichten wie Arthur Schopenhauer und Immanuel Kant zu beschäftigen. Prägend wurden aber vor allem die jahrelangen Vorlesungsbesuche bei Karl Jaspers an der Uni Basel: “Hier fand ich einen philosophischen Glauben ohne beengenden Konfessionalismus, eine über die Grenzen der Verstandeskategorie hinausreichende Gedankenfreiheit, ethisch entschiedene Aussagen, und gleichzeitig eine offene und weite Toleranz, ein Sein, um das wir wissen, von dem wir aber nichts wissenschaftlich Verbindliches aussagen können, … Im Zentrum steht bei Jaspers immer das ethische Problem, ohne zu moralistischer Enge zu erstarren.”
Noch wichtiger wurde für Koechlin die Auseinandersetzung mit Albert Camus, besonders mit dessem Werk “L’homme révolté”. Camus, der 1957 für sein literarisches Werk den Nobelpreis erhielt, suchte angesichts des Versagens der Ideologien und eines maroden Christentums ebenfalls nach einer Weltsicht, das dem Menschen einen inneren Halt und einen neuen Lebenssinn geben konnte. Wer sich kurz mit den Gedankengängen von Camus zum Thema “Revolte” vertraut machen möchte, findet eine kleine Einführung hier und hier.
Camus ist — ganz im Gegensatz zu Jean-Paul Sartre, mit dem er sich wegen dessen Akzeptanz des real existierenden Kommunismus zerstritt — gerade heute wieder aktueller denn je. Man hat ihn gerne zusammen mit Sartre in die Schublade eines nihilistischen Existenzialismus gesteckt, — zu Unrecht, wenn man die folgenden Sätze am Ende seines Buchs wirklich ernst nimmt: “Au bout de ces ténèbres, une lumière pourtant est inévitable que nous devinons déjà et dont nous avons seulement à lutter pour qu’elle soit. Par delà le nihilisme, nous tous, parmi les ruines, préparons une renaissance. Mais peu le savent.” (Am Ende dieser Finsternisse ist dennoch ein Licht unabwendbar, das wir schon erraten und für das wir nur zu kämpfen haben, damit es sei. Jenseits des Nihilismus bereiten wir alle inmitten der Ruinen eine Renaissance vor. Aber wenige wissen es.”)
Heiner Koechlin setzte sich mit “Der Mensch in der Revolte” intensiv auseinander und schrieb Albert Camus im November 1952 einen Brief, in dem er dessen Haltung zur Gewalt, resp. Gewaltlosigkeit kritisierte. Camus war nämlich der Meinung, dass ein limitierter Einsatz von Gewalt für eine Revolution legitim sei, da eine konsequente Gewaltlosigkeit die Knechtschaft zur Folge habe.
Koechlin: ” … Wenn ich Sie recht verstehe, sprechen Sie von einer Haltung, die sich weigert, eine sie auslöschende und bedrohende tyrannische Unterdrückung mit Waffen zu bekämpfen. Mir scheint, die Knechtschaft und die Gewalttätigkeit unserer Tage gründen auf einer langen Gewalttradition einer ganzen Zivilisation und nicht auf der Haltung der Gewaltlosigkeit. …
In Ihrer Studie berücksichtigen Sie die passive Revolte oder die aktive Gewaltlosigkeit nicht, nich einmal als Möglichkeit. … Der bewusste Verzicht auf Verteidigung gibt die Möglichkeit, ein Regime moralisch zu brechen, das zu seiner Existenz auf einen äusseren Feind und eine kriegerische Atmosphäre angewiesen ist. … Wenn die Revolte mittels unbegrenzter Gewalt unmöglich ist, weil sie gezwungenermassen in das Muster totalitärer Macht hineinrutscht, dann erscheint mir die Revolte mittels Gewaltlosigkeit weniger widersprüchlich und wirkungsvoller als diejenige durch begrenzte Gewalt”.
Albert Camus schrieb ihm umgehend zurück: “Ich verstehe nicht nur Ihre Einwände, sondern akzeptiere sie fast vollständig, was die Gewalt und Gewaltlosigkeit anbelangt”. Einer Einladung zu einem Vortrag in Basel folgte Camus leider nicht.
(Wer die beiden Brief vollständig zur Kenntnis nehmen möchte, findet sie hier.)
In den folgenden Jahren publizierte Koechlin wenig. Doch dann kamen die 68-er Jahre, und Heiner Koechlin wurde sozusagen wiederentdeckt. Wie sich seine Auseinandersetzung mit den jungen Revolutionären in Basel gestaltete, darüber mehr wie üblich
am kommenden Samstag, den 4. Juli
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