Wir sind uns heute an die Existenz des innenpolitisch gut und zweckmässig organisierten Schweizerischen Bundesstaates so gewöhnt, dass es jedesmal eine ziemliche Anstrengung unserer Vorstellungskraft verlangt, uns die politischen Verhältnisse in der Alten Eidgenossenschaft zu vergegenwärtigen. Um uns das deutlich zu machen, spricht André Holenstein in Bezug auf die politischen Beziehungen dieses Staatenbundes konsequent nicht von Innenpolitik und Aussenpolitik, sondern von einer inneren und einer äusseren Aussenpolitik:
Als föderativer Verbund war das Corpus helveticum kein einheitliches Staatswesen, sondern ein Konglomerat zahlreicher eigenständiger Klein- und Kleinststaaten, die zueinander wohl engere Bündnisbeziehungen unterhielten als zu anderen Herrschaften – mehr aber nicht. Insofern können die Beziehungen zwischen den Orten als eine Art innere Aussenpolitik bezeichnet werden, deren Gegenstand die Aushandlung der sehr ungleichen, spannungsreichen Bündnisbeziehungen unter den Kantonen war. … Von den ersten Bündnissen im 13. Jahrhundert bis zum Ende der alten Eidgenossenschaft im Frühjahr 1798 haben die Länder und Städte ihre politischen Beziehungen zueinander mit den klassischen Instrumenten der Aussenpolitik geregelt.
Und er illustriert diese Ansicht auch gleich. Wie wir uns vielleicht aus dem Geschichtsunterricht noch erinnern, haben die alten Eidgenossen untereinander immer wieder mal die Waffen sprechen lassen, — vom alten Zürichkrieg über die Kappeler und die Villmergerkriege bis zum Stecklikrieg während der Helvetik. Eine blutige Auseinandersetzung und das Auseinanderbrechen der Eidgenossenschaft nach den Burgunderkriegen wurde erst in letzter Minute dank dem Eingreifen des Niklaus von der Flüe verhindert.
Für die Kommunikation unter den Orten wurde bekanntlich die Tagsatzung geschaffen, die man am treffendsten im diplomatischen Vokabular als Kongress hoher eidgenössischer Gesandter definieren kann. Auseinandersetzungen zwischen den Kantonen wurden durch Schiedsgerichte und Vermittlung der neutralen, unbeteiligten Orte beigelegt, mithin wiederum auf diplomatischem Weg, und nicht durch eine zentrale politische oder gerichtliche Instanz mit allseits anerkannter Entscheidungs- und Exekutivgewalt. … Die Stadt Basel hat denn auch in der ganzen frühen Neuzeit eine intensive eidgenössische Friedensdiplomatie betrieben und in zahlreichen Konfessions- und Machtstreitigkeiten zwischen den Kantonen vermittelt.
Die fehlende Einheitlichkeit als Staatswesen tritt aber noch viel deutlicher zutage, wenn wir uns die aussenpolitische Bündnispolitik der Orte anschauen. Vielleicht ist noch in Erinnerung, dass der Sonderbundskrieg 1847 durch das Bündnis von sieben katholisch-konservativen Kantonen ausgelöst wurde, die ihre Fühler nach Paris, Turin und Wien ausstreckten.
Verschiedene Interessen der Orte verunmöglichten eine gemeinsame Aussenpolitik:
Im Konglomerat der 13 Orte konnte sich kein dominantes Machtzentrum mit dem Monopol auf die Gestaltung der Aussenpolitik ausbilden, weil sich die Orte bis zum Ende des Ancien Régime auch in der äusseren Aussenpolitik grundsätzlich ihre Souveränität vorbehielten und die Aussenbeziehungen auf ihre partikularen Interessen und nur sekundär auf übergreifende Anliegen der gesamten Eidgenossenschaft ausrichteten.
Ein Beispiel gefällig?
Im europäischen Mächtekarrussell ging es für die Alte Eidgenossenschaft vor allem darum, das eigene Überleben zu sichern, sei es dank der “Ewigen Richtung” 1474 mit Habsburg, sei es dank dem “Ewigen Frieden” mit Frankreich 1516 nach Marignano.
Preis dafür war das sogenannte «Stillesitzen», das heisst der Verzicht auf eine eigenständige Rolle in der europäischen Mächtepolitik. Die Mächte erwarteten von den Orten zweierlei: dass diese sich aus deren Kriegen heraushielten und grundsätzlich gleiche Distanz auf alle Seiten hin wahrten und weiterhin privilegierte Beziehungen mit ihnen pflegten, die es insbesondere ermöglichten, weiterhin Söldner anzuwerben.
Es kam aber immer wieder vor, dass die Interessen der Orte auseinanderdrifteten. Als die Beziehung zum von Religionskriegen geschwächten Frankreich wegen ausstehender Soldzahlungen litt, traten die Divergenzen offen zutage:
Skrupellos führten nun Soldunternehmer in katholischen Orten Truppen auch der katholischen Liga und damit der katholischen Adelsopposition gegen den französischen König zu, die die Thronbesteigung des protestantischen Bourbonen Heinrich von Navarra gewaltsam verhindern wollte. Die Krise des französischen Königtums nutzte auch Spanien-Mailand aus und schloss 1587 eine Allianz mit allen katholischen Kantonen ausser Solothurn, das in seiner Ergebenheit gegenüber Frankreich unerschütterlich blieb. Das Bündnis der Inneren Orte und Freiburgs mit Spanien-Mailand enthielt neben militär‑, sicherheits- und handelspolitischen Bestimmungen auch Hilfszusagen der katholischen Vormacht Spanien für einen allfälligen Glaubenskrieg der katholischen Kantone gegen die reformierten Orte.
Eine direkte Folge davon war das Auseinanderbrechen des Kantons Appenzell, als die Frage des Beitritts zur Spanienallianz im Raum stand.
Die katholischen Orte hatten auch schon 10 Jahre vorher ein Bündnis mit Savoyen abgeschlossen, um mittels des savoyischen Drucks auf Genf und die Waadt bernische Machtgelüste zu zügeln.
Wie intensiv sich die konfessionellen Spannungen in der Eidgenossenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts auf die Aussenpolitik der katholischen und reformierten Orte auswirkten, wird das Thema der nächsten Folge, sein. Dies wie immer
am kommenden Donnerstag, den 18. November.
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