Wie es Graeber/Wengrow gelingt, unser eta­blier­tes geschicht­li­ches “Welt­bild”  wenn nötig mit einer Pri­se Sar­kas­mus zu erschüt­tern, sei an die­sem klei­nen Aus­zug illustriert:
Die Frei­heit, sei­ne eige­ne Gemein­schaft in dem Wis­sen zu ver­las­sen, man sei in weit ent­fern­ten Län­dern will­kom­men; die Frei­heit, sai­so­nal zwi­schen ver­schie­de­nen Sozi­al­struk­tu­ren zu wech­seln, und die Frei­heit, Auto­ri­tä­ten ohne böse Fol­gen nicht zu gehor­chen, die­se Frei­hei­ten wur­den von unse­ren fer­nen Vor­fah­ren offen­bar alle genutzt, selbst wenn das heu­te für die meis­ten Leu­te fast völ­lig undenk­bar ist. Die Mensch­heit hat ihre Geschich­te ver­mut­lich nicht in einem Zustand uranfäng­li­cher Unschuld begon­nen, aber sie begann offen­bar mit einer bewuss­ten Abnei­gung dage­gen, her­um­kom­man­diert zu werden.
Wenn dem so ist, kön­nen wir unse­re Aus­gangs­fra­ge zumin­dest dif­fe­ren­zier­ter stel­len: Das wirk­li­che Rät­sel ist nicht, wann erst­mals Häupt­lin­ge oder Chefs oder sogar Köni­ge und Köni­gin­nen auf der Bild­flä­che erschie­nen, son­dern, ab wann es nicht mehr mög­lich war, sie ein­fach durch Geläch­ter zu vertreiben …
Der anar­chis­ti­sche Hin­ter­grund der bei­den Autoren lässt grüssen 😉 .

Wie falsch das heu­te noch domi­nie­ren­de Bild der sog. “prä­his­to­ri­schen” oder “archai­schen” Gesell­schaf­ten ist — frei umher­zie­hen­de “pri­mi­ti­ve” Jäger- und Samm­ler­grup­pen ohne gros­sen Kon­takt unter­ein­an­der — zei­gen die bei­den u.a. an einem ein­drück­li­chen Bei­spiel aus der “archai­schen Zeit” Nord­ame­ri­kas (8000 v.Chr. — 1000 v. Chr), in der gemäss der archäo­lo­gi­schen Schul­mei­nung “nichts Wich­ti­ges” geschah.

Schon mal etwas von Pover­ty Point gehört, seit 2014 ein UNESCO-Welt­kul­tur­er­be? — Nun, der birsfaelder.li-Schreiberling auch nicht …
Dort (im heu­ti­gen Loui­sia­na) kann man bis heu­te die Über­res­te mas­si­ver Erd­wer­ke besich­ti­gen, die um 1600 v.Chr. indi­ge­ne Ame­ri­ka­ner errich­te­ten. … Grasbe­deck­te Hügel und Wäl­le erhe­ben sich deut­lich sicht­bar aus den sorg­fäl­tig gepfleg­ten Wie­sen und bil­den kon­zen­tri­sche Rin­ge, die plötz­lich auf­hö­ren, wo sie durch den Bay­ou Macon weg­ge­schwemmt wurden. (…)
Archäo­lo­gen ver­mu­ten, die Bau­ten von Pover­ty Point hät­ten einen monu­men­ta­len Kult­be­zirk gebil­det, der sich einst über eine Flä­che von mehr als zwei­hun­dert Hekt­ar erstreckte. … 

Um die Bedeu­tung von Pover­ty Point zu ermes­sen, muss man wis­sen, dass die ers­ten eura­si­schen Städ­te, frü­he Zen­tren des des zivi­len Lebens wie Uruk im Süden des Irak oder Har­ap­pa im heu­ti­gen Paki­stan, anfangs Sied­lun­gen mit einer Gesamt­flä­che von etwas zwei­hun­dert Hekt­ar waren. Sie hät­ten also bequem in Pover­ty Point hin­ein­ge­passt. Wie jene frü­hen eura­si­schen Städ­te ent­stand auch die Kult­stät­te von Pover­ty Point an einem gros­sen Fluss, …


Und wie die Städ­te war auch Pover­ty Point das Zen­trum einer viel grös­se­ren Sphä­re kul­tu­rel­ler Inter­ak­ti­on. Men­schen und Res­sour­cen kamen aus Hun­der­ten Kilo­me­tern Ent­fer­nung zu die­ser Stät­te. Ihr Ein­zugs­ge­biet reich­te nach Nor­den bis zu den Gros­sen Seen und nach Süden bis an den Golf von Mexiko. (…)

Etwa eine Mil­li­on Kubik­me­ter Erde wur­de bewegt, um die zere­mo­ni­el­le Infra­struk­tur zu schaf­fen. (…) Die Grös­se der Erd­wer­ke lässt ver­mu­ten, zu bestimm­ten Zei­ten hät­ten sich dort Tau­sen­de von Men­schen ver­sam­melt, in einer Mas­se, die sämt­li­che bekann­ten his­to­ri­schen Jäger- und Samm­ler­po­pu­la­tio­nen  übertrifft. 

Ein sol­ches Monu­ment passt über­haupt nicht in das tra­di­tio­nel­le Bild geschicht­li­cher Ent­wick­lung. Aber es kommt noch bes­ser: 2004 mach­te der Archäo­lo­ge John E. Clark eine bemer­kens­wer­te Ent­de­ckung: Pover­ty Point und vie­le ande­re klei­ne­re Kult­stät­ten gehor­chen erstaun­lich ein­heit­li­chen geo­me­tri­schen Prin­zi­pi­en, die auf Stan­dard­mass­ein­hei­ten und Pro­por­tio­nen beru­hen, die offen­bar von den frü­hen Völ­kern in einem wei­ten Teil des ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nents ver­wen­det wur­den. (…)
Dies bedeu­tet, dass Kennt­nis­se über geo­me­tri­sche und mathe­ma­ti­sche Tech­ni­ken, um genaue räum­li­che Mes­sun­gen durch­zu­füh­ren, und damit zusam­men­hän­gen­de For­men der Arbeits­or­ga­ni­sa­ti­on über sehr gros­se Ent­fer­nun­gen ver­mit­telt wur­den. Und wenn das zutrifft, ist es wahr­schein­lich, auch ande­res Wis­sen — etwa über Kos­mo­lo­gie, Geo­lo­gie, Phi­lo­so­phie, Medi­zin, Ethik, Fau­na, Flo­ra, Eigen­tums­ver­ständ­nis, sozia­le Struk­tur und Ästhe­tik — könn­te wei­ter­ge­ge­ben wor­den sein. (Her­vor­he­bung von mir)
Und das alles in einer Samm­ler- und Wild­beu­ter­ge­sell­schaft ohne land­wirt­schaft­li­che Strukturen!

Nach wei­te­ren Bei­spie­len aus Mexi­ko, von der Pazi­fik­küs­te Bri­tish Colum­bi­as und Japan fas­sen Grae­ber und Wen­grow zusammen:
Was Nord­ame­ri­ka betrifft, begin­nen eini­ge For­scher inzwi­schen mit einem gewis­sen Unbe­ha­gen von der »Neu­en Archai­schen Peri­ode« zu spre­chen, einer bis­her unver­mu­te­ten Ära mit »Monu­men­ten ohne Köni­ge«. Tat­säch­lich jedoch wis­sen wir immer noch sehr wenig über die poli­ti­schen Sys­te­me, die dem heu­te fast welt­weit nach­ge­wie­se­nen Phä­no­men der Monu­men­te zugrun­de lagen, die Wild­beu­ter errich­te­ten. Uns ist auch nicht bekannt, ob bei die­sen monu­men­ta­len Pro­jek­ten Köni­ge oder ande­re Füh­rer betei­ligt waren. 
Fest steht ledig­lich: Die Dis­kus­si­on über die sozia­le Ent­wick­lung in Ame­ri­ka, Japan, Euro­pa und zwei­fel­los auch an ande­ren Orten hat sich auf Grund der Fun­de ver­än­dert. Ganz offen­sicht­lich sind die Jäger und Samm­ler nach der letz­ten Eis­zeit nicht hin­ter die Büh­ne geschli­chen und haben in den Kulis­sen gewar­tet, bis irgend­ei­ne Grup­pe jung­stein­zeit­li­cher Bau­ern das Schau­spiel der Geschich­te wie­der eröffnete. 

War­um schlägt sich das neue Wis­sen den­noch so sel­ten in unse­ren Berich­ten über die Ver­gan­gen­heit des Men­schen nieder?

Zum The­ma “Eigen­tums­ver­ständ­nis”: Als in den 80-er Jah­ren indi­ge­ne nord­ame­ri­ka­ni­sche Dele­ga­tio­nen an der UNO in Genf vor­stel­lig wur­den, war eines der zen­tra­len The­men der Land­raub durch die weis­sen Sied­ler, der jeweils recht­lich abge­si­chert wur­de. Den recht­lich-phi­lo­so­phi­schen Fra­gen, die dahin­ter ste­hen, wen­den wir uns in der nächs­ten Folge

am kom­men­den Frei­tag, den 24. Juni zu

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