Der Revoluzzer soll ein Blatt der kämpfenden Arbeiter sein. Er will der Arbeiterbewegung ihre sozialistischen und revolutionären Ideale erhalten. Er will nicht, dass die Arbeiterbewegung den Charakter einer internationalen Kulturbewegung aufgebe, um zu einer angeblich realpolitischen Anpassungspartei zu werden. Und er will nicht, dass die abgestandenen nationalen Ideale der Bourgeoisie das Proletariat geistig verseuchen und ihm Sand in die Augen streuen darüber, dass es der Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft ist und bleiben muss.
So lautete die Prinzipienerklärung in der ersten Nummer, die im Januar 1915 erschien. Federführend war zu Beginn der Journalist Hans Itschner, der wie Brupbacher einen antimilitaristischen und internationalen Standpunkt vertrat und dem “Revoluzzer” dank seinem volksnahen Schreibstil (z.B. “Ignaz Bünzlis offener Schreibebrief an den Genossen Strebling, sozialdemokratischer Militärkreditbewilliger”) zum Erfolg verhalf. Brupbacher seinerseits versuchte sich als sarkastischer Dichter:
Vaterlandsliebe
von Arnold Spöhndli, Exporteur
Ich liebe vorderhand / Mein teures Schweizerland /Verkauf doch allerhand:
Maschinen den Franzosen /den Deutschen Unterhosen,
Engländern Alpenmilch / Den Balkanvölkern Trilch.
Petrol spedier ich weiter / Getreide nicht mehr, leider.
Das Volk hat sich vermessen / Das selber aufzufressen.
Doch lieb ich vorderhand / Mein teures Schweizerland.
Verkauf noch allerhand.
Aber auch im “Revoluzzer” wird die tiefe Ernüchterung Brupbachers über das Wesen des Proletariats deutlich, wenn er etwa in einem Artikel schrieb:
Ich habe im weitern die Ansicht, dass, wenn einmal die Proletarier die Besitzenden expropriiert haben werden, die beiden Schichten Köter gegen die Bernhardiner aller Klassen sich mobilisieren werden, versuchen werden, sie auszurotten.
Das mag auch der Grund gewesen sein, dass Brupbacher der Zimmerwalder Konferenz, die bald Weltgeschichte schreiben sollte, keine grosse Bedeutung zumass:
… Las die Resolutionen der Internationalen Frauenkonferenz in Bern im März 1915, die Deklaration der schweizerischen Jugendorganisation und auch die Manifeste der Zimmerwalder im September 1915 ohne grosse Auf- und Anregung. Gott, wieviele Resolutionen hatte man nicht gelesen, und noch viel schärfere. Zudem war es ja gar nicht gefährlich in der Schweiz, solche Resolutionen loszulassen, solange sie nicht gegen die eigenen Behörden gingen.
Also auch Zimmerwald ging an mir vorbei, wie alle andern Resolutionen. Die Jugend mochte das ernst nehmen, da sie noch nicht alle Verrate kannte, die da geschehen waren von seiten der Arbeiterschaft und ihrer Vertreter. Man hörte dem zu und las auch Anfang 1917 den “Vorboten”, den die Gruppe “Lenin” herausgab.
Mit Lenin selber kam Brupbacher in keinen näheren Kontakt. Zwar liess dieser eines Tages bei Brupbacher anfragen, ob er ihn als Patienten empfange könne, da er an Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen leide: Unser Rendez-vous kam nicht zustande, da gerade in diesen Tagen die russische Februarrevolution ausbrach und Lenin keine Zeit hatte, sich mit seinem Gesundheitszustand zu beschäftigen. Anfangs April 1917 verreiste er nach Russland.
Brupbachers Zweifel am Sinn seiner politischen Aktivitäten und die Tatsache, dass sich 1915 die Beziehung mit Lydia Petrowna wegen ihres russischen Kriegspatriotismus immer mehr abkühlte, machte Platz für Neues in seinem Leben:
Da ich seit längster Zeit den Sinn des Lebens im Sozialen gesehen und das nicht mehr ausschließlich tat, wurde der alte Lebenssinn wackelig, und ich fing an zu studieren über den Sinn, den neuen Sinn des Lebens, und machte mich daran, eine Art Lehrbuch der Psychologie, vorläufig für mich selber, zu schreiben. (…)
In derselben Zeit erkrankte ich und begegnete während der Rekonvaleszenz im Tessin einem sonderbaren Menschen weiblichen Geschlechts. Dieser Mensch weiblichen Geschlechts war fünfundzwanzig Jahre alt und lungenkrank. Neben der Lungenkrankheit wohnte in dem Menschen eine ungeheure Lebenskraft und Fähigkeit zur Freude — die gedämpft war durch das Gespenst des Todes, das H. R. begleitete und ihr immer wieder mal in die Seele schaute.
Diese junge Frau, Helmi Körw, war in England aufgewachsen, hatte in Russland Geschichte studiert, und wurde bald Brupbachers Geliebte und intellektuelle Muse:
Alles bekam Flügel, und es war deshalb ein Genuß, mit ihr — die Historikerin war von Beruf — in der Weltgeschichte herumzuspazieren. Alles, was sie erstlich sehr realistisch, bis auf die Natur und die Oekonomie hinunter, studierte, ging nachher in die Phantasie hinüber, und wurde mit den Dingen der Vergangenheit ein eigentlicher Wiederbelebungsprozeß vorgenommen. Wenn sie von der Vergangenheit sprach, so sprachen alle Menschen und Dinge zu einem, als wären sie wieder auferstanden, und sie ging mit ihnen um, wie die Dichter mit ihren Geschöpfen. Die ganze Welt wurde zu einem niedlichen Puppentheater, und sogar die Verbrecher der allerwüstesten Sorte bekamen noch Sinn und wurden geradezu Notwendigkeiten für das Leben, ohne die das übrige Leben nicht seine volle Kraft gehabt hätte.
Gleichzeitig war sie seine Patientin:
Ihre Krankheit war nicht leicht. Aber nie habe ich sie während der Jahre, da wir zusammenlebten, klagen hören. Wenn sie etwa traurig war, so setzte sie sich ans Klavier und spielte Chopin. Da wir nicht nur zu zweit, sondern zu dritt waren — war doch auch immer der Tod noch irgendwo mit —, so gab das dem Arzt in mir eine Art neuer Wendung. Da ich gerne geglaubt hätte, daß Helmi gesund werden könnte oder doch unendlich lange lebe, fing ich an, in der ganzen Arzneikunst optimistischer zu werden und studierte besonders die Lungenkrankheiten und deren Therapie. (…)
Ich begann wieder Physik zu studieren und Kurse zu nehmen an der Universität über Radium und Röntgen, besuchte das physikalische Laboratorium und ging in die Poliklinik für Nasen, Kehlkopf, Ohren. Fing an, Röntgenplatten zu entwickeln. Vertiefte mich so weit in die Physik, daß ich auch noch Privatstunden in höherer Mathematik zu nehmen begann. Und wo ich einen Lungenkranken fand, behandelte ich ihn, als ob er ein Stück von meiner Patientin zu Hause wäre.
Helmi Körw starb 1920. Wie wichtig sie für Brupbachers Leben geworden war, zeigt ein Tagebucheintrag vom März 1919:
Immer wieder so froh, einen so lebendigen Menschen getroffen zu haben. Letzte vier Jahre die besten des Lebens, voll Heiterkeit, guten Studiums, Wärme, Wachstums.
In den ersten Weltkriegsjahren war seine aktive politische Teilnahme in den Hintergrund getreten. Doch dann brach im Februar 1917 in Russland die erste Revolution aus, die ein neues Kapitel in der Weltgeschichte eröffnen sollte. Und in Brupbacher erwachte wieder das alte Feuer.
Dazu mehr in der nächsten Folge
am Samstag, den 25. Juni.
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