Die­bold Schil­ling — Schlacht bei Mur­ten 1476

“Nü was der Tall gar ein güt schütz, er hat ouch hüb­sche kind die beschigt der herr zü imm vnd twang den Tal­len mit sinen knechten/ das der Tall eim sim kind ein öpfel ab dem houpt müst schiessen/ denn der herr leit dem kind den opfel vf das houpt …”

Mit die­ser Schil­de­rung im Weis­sen Buch des Obwald­ner Land­schrei­bers Hans Schri­ber trat Tell im Rah­men der Befrei­ungs­sa­ge zum ers­ten Mal schrift­lich beur­kun­det an die Öffent­lich­keit, wur­de rasch zum fes­ten Bestand­teil im kol­lek­ti­ven eid­ge­nös­si­schen Bewusst­sein, — und blieb es über Jahr­hun­der­te, bis ihm moder­ne His­to­ri­ker sei­ne Hel­den­ta­ten schnö­de absprachen:
“Der Herr­schaft Öster­reich stand nicht eine oder meh­re­re demo­kra­tisch regier­te Tal­be­woh­ner­schaf­ten gegen­über, son­dern eine viel­fach geglie­der­te und gestuf­te Land­leu­te­schaft unter Füh­rung eini­ger weni­ger ein­fluss­rei­cher Fami­li­en, die ihrer­seits Grund­herr­schaf­ten mit Leib­ei­ge­nen besas­sen und ein fei­nes Gespür hat­ten für Macht. … Mor­gar­ten ist sicher ein Ueber­le­bens­kampf als Fol­ge der von den drei Wald­stät­ten auf­ge­nom­me­nen Riva­li­tät mit Habs­burg-Öster­reich, aber bestimmt kein Kampf für Volks­frei­heit. In den Bur­gen der drei Wald­stät­te wohn­ten näm­lich nicht habs­bur­gi­sche Vög­te, son­dern ört­li­che Poten­ta­ten und Empor­kömm­lin­ge aus dem eige­nen Land.” (Bern­hard Stett­ler, Wil­helm Tell: Wo er zu fin­den und wo er nicht zu fin­den ist)

War­um also tauch­te “der Tall” plötz­lich in der zwei­ten Hälf­te des 15. Jhdts auf? Die­ser Fra­ge wol­len wir hier nach­ge­hen, doch dazu müs­sen wir etwas ausholen:

Zür­cher Kriegs­schiff mit Habs­bur­ger Pikenieren

Wir haben gese­hen, dass die Schwei­ze­ri­sche Eid­ge­nos­sen­schaft im 14. Jhdt nur eine unter vie­len Eid­ge­nos­sen­schaf­ten war. Das Beson­de­re war nun aller­dings, dass sie bestehen blieb, wäh­rend die meis­ten ande­ren bald wie­der ver­schwan­den. Eine Beson­der­heit war auch die unge­wöhn­li­che Ver­bin­dung von Land- und Stad­t­or­ten. Dass das bei­lei­be kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit war und nicht ohne mas­si­ve Span­nun­gen ablief, zeigt der bru­ta­le Alte Zürich­krieg, als Zürich sich — übri­gens völ­lig legal — wie­der mit Habs­burg ver­bün­de­te und sich erst nach sei­ner Nie­der­la­ge zäh­ne­knir­schend erneut in das eid­ge­nös­si­sche Bünd­nis­sys­tem einordnete.

In der Rück­schau sind sich die His­to­ri­ker heu­te einig, dass der Wech­sel von einem losen Bünd­nis­ge­flecht zu einem Bünd­nis­ver­band, der lang­sam staat­li­che For­men annahm, erst im Lau­fe des 15. Jahr­hun­derts erfolg­te. Dazu trug einer­seits die Erobe­rung des Aar­gaus 1415 bei, weil dies anschlies­send eine gemein­sa­me Ver­wal­tung erfor­der­te und zu einer ter­ri­to­ria­len Abrun­dung führ­te. Ande­rer­seits wur­den die Eid­ge­nos­sen willig/unwillig — je nach Inter­es­sen­la­ge — in das euro­päi­sche Schach­spiel der Gross­mäch­te Frank­reich, Bur­gund, Deut­sches Reich und Habs­burg hin­ein­ge­zo­gen, das in den Bur­gun­der­krie­gen und deren dra­ma­ti­schen Fol­gen gipfelte.

Lud­wig XI.

Eigent­lich war die Tel­len­ge­schich­te 1470 völ­lig fehl am Platz, denn schon 1474 kam es dank der Ver­mitt­lung des fran­zö­si­schen Königs Lud­wig XI. zur Ewi­gen Rich­tung zwi­schen Habs­burg und der Eid­ge­nos­sen­schaft, die zur Ein­stel­lung jeg­li­cher Kampf­hand­lun­gen und der gegen­sei­ti­gen Aner­ken­nung des ter­ri­to­ria­len Besitz­stan­des führ­te. Inter­es­san­ter­wei­se war Habs­burg dabei sogar feder­füh­rend, denn “ain ewig vers­tend­nuss mit den Eid­ge­nos­sen sei für Habs­burg nur vor­teil­haft, denn “nach­dem sie nach sol­her aini­gung die leng nit mit­ein­an­der bley­ben wer­den oder mugen, — dass sich also die Orte man­gels gemein­sa­mem Feind­bild frü­her oder spä­ter wegen diver­gie­ren­der Inter­es­sen gegen­sei­tig an die Gur­gel fah­ren wür­den, — und das war mög­li­cher­wei­se durch­aus eine rea­lis­ti­sche Einschätzung …

Karl der Kühne

Dass es nicht dazu kam, dafür sorg­ten die krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit dem gröss­ten und moderns­ten Heer Euro­pas unter der Lei­tung des mäch­tigs­ten Fürs­ten Euro­pas, der nach der Königs­kro­ne streb­te: Karl dem Küh­nen von Bur­gund. Bern — gekauft mit fran­zö­si­schem Geld — zog die übri­gen Eid­ge­nos­sen nolens volens in einen eigent­li­chen Über­le­bens­kampf. Wer sich über die kom­ple­xen Hin­ter­grün­de ori­en­tie­ren möch­te, fin­det hier eine aus­führ­li­che Übersicht.

Die Bas­ler tref­fen in Mur­ten ein

Ein klei­nes Detail aus der Schlacht bei Mur­ten, die für Karl bekannt­lich in einem abso­lu­ten Desas­ter ende­te, gibt nun einen Ein­blick in das zutiefst von einer Welt des Mythos gepräg­ten Selbst­ver­ständ­nis der Eid­ge­nos­sen: Trotz wid­rigs­ter Wet­ter­ver­hält­nis­se began­nen sie nach einem Gebet mit “zer­ta­nen Armen” (PDF) ihren Angriff — für Her­zog Karl völ­lig über­ra­schend — am 22. Juni, dem Tag der 10000 Rit­ter.
Der Bas­ler Haupt­mann Peter Rot — ja, auch die Bas­ler waren schon als Mit­glied der Nie­de­ren Ver­ei­ni­gung dabei — schrieb dem Bas­ler Rat: Wie hart und erbar­mungs­los der Angriff und die Schlacht ablie­fen, wol­len wir Euch nach der Rück­kehr berich­ten. Der ewi­ge all­mäch­ti­ge Gott, die wür­di­ge und keu­sche, rei­ne Jung­frau und Mut­ter Maria und die hei­li­gen 10’000 Mär­ty­rer haben für uns gefoch­ten, denn die Sache war nicht mensch­lich. Dem all­mäch­ti­gen Gott, sei­ner wür­di­gen Mut­ter und den hei­li­gen 10’000 Mär­ty­rern sei Lob und Dank, sei Lob und Ehre.

Gebet mit zer­ta­nen Armen

Die­se Über­zeu­gung, Got­tes aus­er­wähl­tes Volk zu sein, lässt sich in zahl­lo­sen Zeug­nis­sen nach­wei­sen, z.B. im Aus­spruch nach Mur­ten: “Ir sind gefu­ert als Isra­el durchs mer mit klei­nem scha­den”.
Sie war auch bit­ter nötig, wenn man die Vor­wür­fe Kai­ser Maxi­mi­li­ans I. wenig spä­ter im Vor­feld der Schwa­ben­krie­ge zur Kennt­nis nimmt:  Die Eid­ge­nos­sen­schaft sei  “eine wider­recht­li­che, gott­ver­ges­se­ne und unchrist­li­che Ver­schwö­rung “böser, gro­ber und schnö­der gepurs­lüt”, die “kein tugend, ade­lich geblüt, noch mäs­si­gung” besas­sen. Gegen ihre “rech­te natür­li­che her­schaft” wider Gott, Ehre und Recht hät­ten sie sich auf­ge­wor­fen und ihren Herrn und den Adel umge­bracht (Sem­pach!) … Damit hät­ten sie “die kris­ten­heit spot­lich ver­las­sen und gefähr­de­ten nicht nur das Reich, son­dern auch den “kris­ten­li­chen glau­ben” (Guy Mar­chal, Schwei­zer Gebrauchs­ge­schich­te). — Dazu kam noch der Spott über die Kuh­schwei­zer, die “kue­ge­hy­er”, die wider­na­tür­li­chen Umgang mit Kühen pfle­gen würden.

Tat­säch­lich wur­zel­te die Pole­mik des Kai­sers in der tief ver­wur­zel­ten und all­ge­mein aner­kann­ten Über­zeu­gung, dass die Stän­de­ord­nung “Kle­rus, Adel und Bau­ern­stand” gott­ge­ge­ben und fest­ge­fügt sei, — und die Eid­ge­nos­sen hat­ten dage­gen ver­stos­sen! Es galt des­halb, die eid­ge­nös­si­sche Posi­ti­on mit einem radi­ka­len Gegen­ent­wurf zu recht­fer­ti­gen: “From­me, selbst­ge­nüg­sa­me und  gerech­te Bau­ern sei­en sie gewe­sen und daher von Gott zur Beschä­mung des Adels aus­er­ko­ren wor­den. Das “göt­lich recht” habe die christ­li­che Stän­de­ord­nung von Grund auf umge­stos­sen: “Edel­lüt sind puren wor­den, und die puren edel­lüt …” (Guy Marchal)

In die­sem Zusam­men­hang wird nun begreif­lich, wel­che Rol­le “dem Tall” in die­ser Aus­ein­an­der­set­zung zukam: Er war der Beweis für die Recht­mäs­sig­keit der eid­ge­nös­si­schen Son­der­ent­wick­lung! Inter­es­san­ter­wei­se blieb aber die Über­zeu­gung, trotz all der Diver­gen­zen den­noch ein Teil des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches zu sein, weit bis ins 17. Jahr­hun­dert hin­ein erhal­ten, wie ein Bild aus der Schwei­zer Chro­nik von Peter­mann Etter­lin aus dem 16.  und ein Wap­pen­re­li­ef in Sur­see aus dem 17. Jhdt deut­lich macht.

Geben wir zum Abschluss Bern­hard Stett­ler für eine Zusam­men­fas­sung das Wort: “In der zwei­ten Hälf­te des 15. Jhdts behaup­te­te sich die Eid­ge­nos­sen­schaft aus­sen­po­li­tisch mit eini­gem Erfolg. Im Inne­ren stand sie jedoch mehr­mals vor Zer­reiss­pro­ben. Nur müh­sam fand man einen gemein­sa­men Nen­ner und ent­wi­ckel­te ein Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl, die Vor­stel­lung einer Ein­heit. Es ist bezeich­nend, dass die bei­den bedeu­tends­ten Schwei­zer Natio­nal­hel­den (Tell und Win­kel­ried) ihre mythi­schen Ursprün­ge in der Zeit der Bur­gun­der­krie­ge hat­ten, den 1470-er Jah­ren. … Das Bedürf­nis nach his­to­ri­scher Her­lei­tung und Mani­fes­ta­ti­on hat­te zwei unter­schied­li­che Moti­ve: Zum einen soll­te die mythi­sche Geschich­te mit­hil­fe eines gemein­sa­men Feind­bilds das Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl stär­ken, zum andern dem neu gewon­ne­nen Selbst­be­wusst­sein der Eid­ge­nos­sen­schaft ein wür­di­ges his­to­ri­sches Fun­da­ment ver­lei­hen.

Dass der gute Tell aber schon bald auch inner­halb der Eid­ge­nos­sen­schaft für Unru­he sor­gen wür­de, — das wird das The­ma unse­rer nächs­ten Fol­ge sein.

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